© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/08 05. September 2008

Die Eitelkeit der Selbsthasser
In seinem mitreißenden Essay "Der Schuldkomplex" kritisiert Pascal Bruckner die übertriebene Büßerhaltung der europäischen Linken
Thor Kunkel

Jeder ist verantwortlich für alle anderen, jeder ist schuldig und ich mehr als alle anderen!" Was sich nach einer Antrittsrede von Joschka Fischer vor dem Europaparlament anhört, entstammt in Wirklichkeit einem Roman Dostojewskis, der sich bereits zweihundert Jahre vor dem französischen Philosophen Pascal Bruckner über einen Ummünzer der Schuld literarisch mokierte. Doch schon die Tatsache, daß dieses in Frankreich leidenschaftlich diskutierte Buch von deutschen Feuilletons fast ausnahmslos ignoriert wurde, zeigt, wie unbequem der herrschende Zeitgeist Bruckners Abrechnung mit den Scheinheiligen und Gutmenschen empfindet.

Bruckner analysiert keinen Trend, er untersucht eine unangenehme Geistesverwirrung, die für ihn im Zeitalter des "schluchzenden weißen Mannes" gipfelt. Dabei legt er den Finger gleich tief in die Wunde: Hinter der im Deckmäntelchen kritischen Denkens zur Schau getragenen Bußfertigkeit stecke oft nur die Absicht, sich im Hier und Jetzt vor unangenehmer Verantwortung zu drücken. Während die Amerikaner in der Regel intervenieren, verkriecht sich Europa und suhlt sich im Selbsthaß.

Bruckner nimmt das Phänomen zunächst aus französischer Sicht unter die Lupe, wobei er an mißglückte französische Völkermorde anknüpft, die es schon vor 1942 gab. Napoleons Kolonialkriege bezeichnet Bruckner als "genozidäres Unternehmen", die "verwaltungsmäßig geplanten Massaker und Ausräucherungen" der rebellischen Stämme als "kohärentes Projekt eines Genozids, lange vor der Vernichtung der europäischen Juden". Erst seit Nürnberg betrachte man "Massenvernichtungen mit anderen Augen".

Der Anteil Europas an diesen Orgien des Hasses war zweifellos größer als der Anteil der Vereinigten Staaten und erklärt für Bruckner den ausgeprägten "europäischen Masochismus" und die "Eitelkeit der Selbsthasser", die mit ihrer Bußfertigkeit in Kultur und Politik zur Zeit kräftig Kasse machen. Selten wurde einmal deutlicher über die "Verwertung von Schuld- und Reuegefühlen in eine Art spirituelle Ware" geschrieben.

Bruckners Essay geht noch einen Schritt weiter. Er weist darauf hin, wie die negative Ideologisierung der Tradition die Ausbreitung des Islam heimlich fördert. Bruckner: "Der Starrsinn der Linken, die jeden Kompromiß mit der bürgerlichen Gesellschaft ablehnt und die 'petit blancs', die Masse der armen und benachteiligten Weißen, mit heftigsten Ausdrücken verunglimpft, ebnet tatsächlich den reaktionärsten Elementen der islamischen Glaubensgemein- schaften den Weg." Der Standpunkt der amerikanisch-jüdischen Gegenseite ist dagegen einfach: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Die Europäer sind dagegen an ihre heuchlerischen Selbsttäuschungsstrategien gebunden und üben deshalb eine befremdende Nachsicht, von der neuerdings auch afrikanische Diktaturen profitieren.

In dieser Doppelbödigkeit sind die Deutschen natürlich Weltmeister. Hier wurde eine ganze Generation dazu abgerichtet, sich selbst zu kasteien und Kult mit der Schuld zu betreiben. Zur Aufrechterhaltung der öffentlichen politisch-korrekten Gesinnung wurden Funktionäre nach Art mittelalterlicher Feuerwächter und Marktbüttel berufen, die in den Medien Denk- und Sprechgebote postulieren. Die Problematik scheint Bruckner bewußt: "Bei der geringsten Abweichung erheben diese Vorturner der Zerknirschung ihre Stimme, betätigen sich als Sprachpolizisten und erteilen und verweigern ihre Imprimatur. In dieser großen Geistesfabrik sind sie es, die Türen öffnen oder schließen." So erklärt es sich, daß hier ein geradezu irrsinniger "Kollektivschuldkomplex" kultiviert wurde. Bruckner spricht von einer "Hitlerisierung der Geschichte" und schreibt ohne Scheu über die "Widersprüchlichkeiten von Auschwitz". Es sei zum "Goldstandard des menschlichen Leidens" transmutiert, ja, "zu einer Art Schatz, aus dem man Vorteile zu ziehen glaubt". Statt die Ursachen der Verirrung zu analysieren, wurde - so Bruckner - eine "perverse Opfermetaphysik" etabliert, die in Deutschland zu einer noch perverseren Beschäftigungspolitik für die Nachkommen der Opfer geführt habe.

Bei diesen Nutznießern geht es heute um sechsstellige Jahresgehälter, um Würdenträgerei und Statussymbole, was vielleicht das leidenschaftliche Verlangen vieler erklärt, in diesen exklusiven Klub aufgenommen zu werden. Fast beiläufig konstatiert Bruckner einen skurrilen Wettbewerb unter den islamischen Völkern. "Alle streben danach, dieses Qualitätssiegel, auf dem 'Genozid' steht (...) zu bekommen."

Von Hitler spannt er noch einmal den Bogen zu dessen Vorbild Napoleon, der nicht nur die "industrielle Vernichtung des algerischen Volkes" vorbereitet, sondern auch eine "Rassengesetzgebung eingerichtet habe, die bereits die Nürnberger Gesetze vorwegnimmt" (Claude Ribbe, Nationaler Ausschuß für Menschenrechtsfragen). Bruckner zitiert aus bislang unbekannten Quellen, zum Beispiel aus Schriften eines gewissen Eugène Bodichon, seines Zeichens Doktor der Medizin, der bereits 1846 mit Verve die "Ausrottung niederer Rassen" im Namen des Fortschritts postulierte.

Bruckner hat mehr als nur ein Debattenbuch geschrieben, wie die französische Tageszeitung Le Monde meinte. Er versucht den Schleier aus Selbsttäuschung und Opportunismus sichtbar zu machen, der wie eine giftige Dunstglocke über Europa, vor allem aber Deutschland lastet und fatale politische Fehlentscheidungen begünstigt. Für die Deutschen hat Bruckner noch einen besonderen Tip: "Es ist nicht erste Pflicht einer Demokratie, immer wieder das vergangene Böse aufzurollen, sondern unablässig heutige Verbrechen und Fehler anzuprangern." Bleibt zu nur hoffen, er hat sich für diesen Ratschlag einmal vorsorglich bei den Opfern des Holocaust entschuldigt. Ob es einen Zusammenhang gibt, ist nicht so wichtig, schaden kann es auf jeden Fall nicht.

Pascal Bruckner: Der Schuldkomplex. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa. Pantheon Verlag, München 2008, gebunden, 256 Seiten, 12,95 Euro

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