© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/08 12. September 2008

Der Knöllchenverteiler
Porträt: Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan J. Kramer, greift immer wieder aggressiv in politische Debatten ein
Doris Neujahr

Am Ende des Films von seiner hintersinnigen Gaunerkomödie "Die Dreigroschenoper" bringt Bertolt Brecht die Dialektik bürgerlicher Machtverhältnisse auf den Punkt: "Denn die einen sind im Dunkeln / Und die andern sind im Licht. / Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht." Der 40 Jahre alte Stephan J. Kramer, seit 2000 Geschäftsführer und seit 2004 Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, vereint dieses Spannungsverhältnis in einer Person: Kramer sucht das grelle Licht der Medien und bleibt dennoch im Hintergrund.

Und das in zweierlei Hinsicht. Die Macht, die er ausübt, verdankt sich weder demokratischer Legitimation noch einem transparenten, formellen Verfahren. Doch sie existiert, und zwar in einen Umfang, daß er zu den Mächtigen im Land zählt. Während der Filbinger-Oettinger-Affäre zwang er den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg zu einem demütigenden Kniefall.

Auch in der Kampagne gegen den thüringischen Ministerkandidaten Peter Krause war sein Wort entscheidend. Als alles vorbei war, resümierte die Zeitung Freies Wort aus Suhl: "Zwar hatte ihm (Krause, D. N.) noch Mitte vergangener Woche der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan J. Kramer, 100 Tage Bewährungsfrist zugebilligt. Doch schon am Freitag bezeichnete ihn Kramer als 'denkbar ungeeignet' für den Posten des Kultusministers. Für Hobby-Boxer Krause blieb danach (Hervorhebung  D. N.) wohl nur noch eine Wahl: schon vor der ersten Runde aus dem politischen Ring zu gehen."

Kramer läßt keine Gelegenheit ungenutzt, kräftig hinzulangen, wobei seine Attacken sich fast immer gegen Personen und Positionen richten, die im - ohnehin grotesk verschobenen - politischen Koordinatensystem "rechts von der Mitte" stehen.

Zur Forderung des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) nach einer härteren Gangart gegen kriminelle Ausländer merkte er an, Kochs Wahlkampf unterscheide sich "kaum noch von dem der NPD". Er fügte hinzu: "Wir brauchen anscheinend keine Programme gegen Rechts, sondern Erziehungs- und Ethikkurse für einige Politiker." Den Kölner Kardinal Meisner stellte er gar als "notorischen geistigen Brandstifter" hin. Meisner teste "die Grenzen des Erlaubten nicht nur aus", sondern überschreite sie "vorsätzlich".

Evelyn Hecht-Galinski, die sich gegen die Injurien des Publizisten Henryk M. Broder zur Wehr setzt (JF 36/08), nannte er "eine der führenden Vertreterinnen, die offensichtlich ihren Selbsthaß in antisemitischen und antizionistischen Äußerungen zu bewältigen versucht".

Den früheren Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem, der sich kritisch zur Strafbarkeit der Leugnung des Holocaust geäußert hatte, beschied er: "Es ist unverantwortlich, daß sich eine Koryphäe der Rechtswissenschaft beim Thema Holocaust-Leugnung solche Kapriolen leistet." Sogar der Papst wird von Kramer belehrt. Von der Wiedereinführung der lateinischen Messe erwarte er, Kramer, eine "nachhaltige Störung des katholisch-jüdischen Dialogs". Es wäre eine "schallende Ohrfeige" für alle, die sich seit Jahrzehnten für diesen Dialog einsetzen, und eine "schwere Belastung" der katholisch-jüdischen Beziehungen, ließ er den Vatikan wissen.

Was spricht aus diesen Sätzen? Arroganz? Größenwahn? Machtgefühl? Und was legitimiert und befähigt Kramer zum Beispiel, eine juristische "Koryphäe", einen in seinem Fach "an der Spitze Stehenden" also, wie einen dummen Jungen abzukanzeln? Dabei stößt er so gut wie nie auf Widerstand, jedenfalls auf keinen, der an Intensität dem Aggressionsgehalt seiner Angriffe entspricht.

Sachlich sind seine Anwürfe leicht zu widerlegen. Also spielt Furcht die entscheidende Rolle. Furcht ist die antizipierte Gefahr eines Kontrollverlusts. Da die Machtstrukturen undurchschaubar sind, derer sich Kramer virtuos und effektiv bedient, sind die Folgen energischen Widerspruchs in der Tat unkalkulierbar. Das Bewußtsein seiner Unangreifbarkeit hat bei Kramer zum Gefühl von Omnipotenz, von Allmacht, Allwissenheit, Allzuständigkeit geführt.

Seine Ambivalenz hat noch eine zweite Seite. Als die Instanzen, die sein öffentliches Eingreifen bestimmen, nannte er seinen "gesunden Menschenverstand" und seine "inneren Werte und Haltungen". Über deren Entstehung, Struktur, Steuerung aber weiß man wenig, obwohl sie keine Privatangelegenheit, sondern als Quelle folgenreichen öffentlichen Handelns von politischer Relevanz und allgemeinem Interesse sind.

Die üblichen biographischen Nachschlagewerke geben kaum Aufschluß, es bleibt bei Äußerlichkeiten, und für die Medien ist seine Biographie kein Thema. Kramer wurde 1968 in Siegen geboren, ist verheiratet, hat zwei Kinder. Er hat ein Studium der Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre absolviert - mit welchem Ergebnis, wird nicht mitgeteilt. Ab 1991/92 war er Büroleiter bei Staatssekretär Friedhelm Ost und Stabschef beim Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Hans Stercken (CDU). Von 1995 bis 1998 arbeitete er als Persönlicher Referent des Direktors der Conference on Jewish Material Claims against Germany, die Wiedergutmachungsforderungen gegen Deutschland vertritt, und koordinierte auch die Büros für Entschädigungsfragen in Rumänien, Ungarn, Moldawien. 1998/99 war er Persönlicher Referent von Ignatz Bubis, Präsident des Zentralrats der Juden. Außerdem ist er Mitglied im Direktorium des World Jewish Congress und gehört dem Beirat Innere Führung des Bundesministeriums für Verteidigung an. Er ist Ehrenbürger der Stadt Omaha/Nebraska. Womit hat er sich diese Würde verdient? Hat er seinen Wehrdienst abgeleistet? Nachfragen der JUNGEN FREIHEIT wollte Kramer nicht beantworten.

Immerhin gibt es einen Artikel aus der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung (seit 2002: Jüdische Allgemeine) vom 13. April 2000, der sich anläßlich seiner Berufung zum Geschäftsführer des Zentralrats mit dem damals 32jährigen beschäftigt. Danach hat er als 16jähriger das Elternhaus verlassen und ist in die Junge Union eingetreten. Mit 18 war er Stadtrat in Siegen. Wegen seiner Strebsam- und Beredsamkeit galt er als "Dieter Thomas Heck mit Bundeskanzlerambitionen". Er arbeitete als Friedhofsgärtner, Kellner und verteilte in Königswinter Knöllchen an Falschparker. Bald trat er aus der Union zur FDP über. Seine Familie väterlicherseits stammt aus Rumänien und Thüringen, mütterlicherseits aus Elsaß-Lothringen. Die Frage nach seiner Identität beantwortete er auf englisch: "Accidentally born in Germany, raised American and Jewish by heart." ("Zufällig in Deutschland geboren, amerikanisch aufgewachsen und im Herzen jüdisch.") Allerdings ist Kramer kein gebürtiger Jude, sondern "erst vor wenigen Jahren (...) zum Judentum konvertiert". (Berliner Zeitung, 17. September 2007)

Als Zentralratspräsident Paul Spiegel 2006 starb, wurde Kramer als möglicher Nachfolger genannt. Er verzichtete zugunsten von Charlotte Knobloch auf eine Kandidatur. Doch Kramer wird als starker Mann des Zentralrats wahrgenommen. Als Knobloch 2006 mit ihrer Forderung nach Ausweitung der Holocaust-Erziehung allgemeine Betretenheit auslöste, machte sich Kramer im Berliner Tagesspiegel über seine Präsidentin lustig: "Wenn man neu ist, muß man sich erst einmal warmlaufen. Da geht einem manchmal etwas durch." Im vergangenen Jahr wollte er für den Vorsitz der starken Jüdischen Gemeinde in Berlin kandidieren. Das Präsidium des Zentralrats kommentierte die Aussicht auf Kramers Machtzuwachs mit der schmallippigen Erklärung, die Kandidatur sei nicht mit ihm abgestimmt.

Bei einem so machtbewußten Mann läßt sich die Aggressivität nicht mit dem Eiferertum des Konvertiten erklären. Kramer macht keineswegs den Eindruck, als müsse er den Verlust eines Herkunftsmilieus durch doppelte Hingabe kompensieren. Aber er kennt die Psychologie der nichtjüdischen Seite aus eigener Erfahrung und weiß um ihr  eingesenktes Schuldgefühl. Man gewinnt manchmal den Eindruck sadistischen Vergnügens, das ihm das hilflose Verteidigungsgestammel der Attackierten bereitet. Bei einem derart erotischen Verhältnis zur Macht ist der frühe Wechsel aus der Parteipolitik - wo ihm gewiß viele Türen offengestanden haben - in die Verbands- und Lobbypolitik doppelt bemerkenswert. Ob er - und damit kehren wir zurück zu Brecht - mit der Erkenntnis zusammenhängt, daß hier die wirkliche, echte Macht liegt, die der Politiker dagegen nur eine abgeleitete ist?

Es stieß merkwürdig auf, daß Kramer sich mit dem ehemaligen Chef des Zentrums für Türkeistudien in Essen, Faruk Şen, solidarisierte, als dieser die Situation der Türken in Europa mit der Lage der Juden im "Dritten Reich" verglich. Der Unsinn dieser Aussage liegt auf der Hand, die implizite Verharmlosung jüdischen Leidens ebenfalls. Auf der Suche nach einer rationalen Erklärung für Kramers Verhalten sah sich Patrick Bahners in der FAZ "darauf verwiesen, daß Şen als Kulturbotschafter jener türkischen Republik wirkt, mit der Israel im stillen verbündet ist".

Diese Erklärung klingt nur vordergründig überzeugend. Immerhin hat Faruk Şen indirekt die Singularitätsthese in Frage gestellt, die die entscheidende Legitimationsquelle für die moralische und politische Macht ist, die der Zentralrat und Kramer ausüben. Deshalb können sie es sich gar nicht leisten, sie mit anderen zu teilen, nicht einmal vorübergehend und aus taktischen Gründen. Eine Büchse der Pandora würde sich öffnen. Der Grund für Kramers riskante Nachsicht ist ein anderer. In Faruk Şens unsinniger Äußerung kam die Instrumentalisierung des Holocaust zu politischen Zweck so klar zum Vorschein, daß sie geeignet war, eine Debatte auszulösen, die auch vor der Rolle des Zentralrats nicht haltgemacht hätte. Kramer hat sie mit seiner Unterstützung für Faruk Şen erfolgreich abgeblockt.

Er wolle gar nicht wissen, "wie schlimm es in Deutschland aussähe, wenn die Leugnung des Holocaust nicht strafbar wäre", hat Kramer zur Forderung von Ex-Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem nach einer Reform des Paragraphen 130 Strafgesetzbuch geäußert. - Nun, Kramers Macht würde geringer, das Land dafür ein wenig freier und heller. Was ist daran schlimm?

Foto: Stephan J. Kramer: Leicht zu widerlegende Anwürfe

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen