© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/08 12. September 2008

Mein Heim ist meine Schule
Bildung: Rosemarie und Jürgen Dudek unterrichten ihre Kinder zu Hause - deshalb droht ihnen nun das Gefängnis
Diane de Trentinian

Lukas hat Geschichte und erledigt gerade die heutige Stillarbeit. Das Wichtigste der gerade gelesenen Kapitel schreibt er in sein Heft nieder. Er arbeitet konzentriert und hat eine für einen 14jährigen erstaunlich ordentliche Handschrift. Als er fertig ist, setzt sich der Lehrer zu ihm und gibt ihm eine kleine Einführung in das Thema der nächsten Wochen, die Epoche der Aufklärung. Währenddessen sitzt der zwölf Jahre alte Daniel am Nachbartisch und übt emsig englische Grammatik. Ab und zu muß er das Regelbuch hinzuziehen oder das Lexikon. Auch er ist hochkonzentriert, obwohl es schon die fünfte Stunde ist an diesem Montagmorgen.

Was in anderen Klassenzimmern selten geworden ist und ein wenig an die Zwergschulen vergangener Tage erinnert, funktioniert im hessischen Archfeld im Ringgau. In einer ruhigen Atmosphäre lernen Daniel und Lukas selbständiges Arbeiten mit einem Lehrer, der Zeit hat, auf den einzelnen Schüler einzugehen. Das Besondere: Dieser Lehrer ist ihr Vater, die Schulstube ein gemütlicher kleiner Raum voller Bücher im elterlichen Haus. Eine andere Schule haben die Kinder nie besucht. Und deswegen sollen jetzt die Eltern für je drei Monate ins Gefängnis.

Rosemarie Dudek (42) und ihr Mann Jürgen (47) glauben daran, daß ihnen Gott den Weg gewiesen habe, den sie jetzt gehen. Als Jonathan, der älteste Sohn, vor zehn Jahren die erste Klasse einer staatlichen Grundschule besuchte, stellten sie fest, wie weit die dort vermittelten Werte und Erziehungsmaßstäbe von ihrem Ideal entfernt waren.

Auf der Suche nach Alternativen stießen sie auf Eltern, die ihren Nachwuchs zu Hause unterrichten. Das erschien ihnen wie ein Wink des Himmels. Sie hatten großen Respekt vor dieser Herausforderung und besorgten sich zunächst Fernschulmaterial und Lehrpläne. Dann übernahm Rosemarie Dudek, Mutter von sieben Kindern,  den Unterricht ihres Sohnes. Die jüngeren Geschwister folgten nach. Jürgen Dudek, Magister der Politik, Anglistik und Geschichte, entschied sich für eine Halbtagstätigkeit, um den Stoff ab der fünften Klasse zu vermitteln. Den Unterhalt der Familie verdient er jetzt mit Nachhilfestunden.

In den ersten Jahren trafen Rosemarie und Jürgen Dudek nicht auf Widerstand. Weil ihr Unterricht, der routiniert nach Stundenplan abläuft, erfolgreich war, die Kinder tüchtig lernten und die ganze Familie mit dem Konzept glücklich war, fühlten sie sich bestätigt. Als aber die Schulamtsleitung von ihrem Fall erfuhr, geriet das individuelle Bildungskonzept unter Druck: Zuerst mußten Dudeks eine Auflage bezahlen, dann wurde ein Strafverfahren anhängig. Der Staatsanwalt gab sich nicht mit der vom Amtsgericht verordneten Geldstrafe von 900 Euro zufrieden und erreichte im Juni vor dem Landgericht Kassel die Verhängung der Freiheitsstrafe.

So ganz wollen die Dudeks noch nicht glauben, daß es so weit kommen könnte. Sie wissen, daß ihre Chancen gegen die Bürokratie gering sind. "Aber wir haben unsere Angelegenheit dem lebendigen Gott anvertraut", sagt Rosemarie Dudek ruhig. Fristgerecht legten ihre Verteidiger beim Oberlandesgericht Frankfurt Revision ein, die dieser Tage geprüft wird. Außerdem hat das Schulamt in Bebra wieder einen Strafantrag gestellt, da drei der schulpflichtigen Kinder bis Ende August keine staatliche Schule besuchten und statt dessen der Unterricht in Archfeld seinen gewohnten Gang geht.

Die Dudeks sind überzeugt: Die "Herzensbildung" der Kinder und Erziehung im christlichen Glauben müssen Hand in Hand gehen. Wenn dies in der Schule nicht gewährleistet ist, sei die Schule zu Hause die bessere Lösung. Und hier sind sie sich mit einer immer größer werdenen Zahl von sogenannten Homeschoolern einig: Schulpflicht darf nicht Schulbesuchspflicht heißen. Laut Grundgesetz ist es die "zuvörderst den Eltern obliegende Pflicht, ihre Kinder zu erziehen". Und der Grundgesetzartikel 7 definiert: "Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates." Daraus muß man nicht zwangsläufig Schulpflicht ableiten.

Zur Zeit entspricht dies aber der gängigen Rechtspraxis. Dies zu ändern, sind verschiedene Interessenverbände bemüht. Im Netzwerk Bildungsfreiheit  oder dem Bundesverband natürlich Lernen schließen sich Betroffene zusammen und wollen verkrustete Strukturen aufbrechen (JF 20/07). Warum etwa durften Musiker der Gruppe Tokio Hotel im schulpflichtigen Alter mit einem Privatlehrer im Tourbus lernen? Warum gestatten fast alle westlichen Länder Hausunterricht? Und verankern ihn sogar als Grundrecht wie die skandinavischen Staaten? Schließlich: Wovor haben deutsche Behörden Angst? Eine Anwort gibt ein Entscheid des Bundesverfassungsgerichts, der von anderen Gerichten gerne zitiert wird, auch vom Landgericht Kassel im Fall Dudek. Von religiös und weltanschaulich motivierten Parallelgesellschaften ist darin die Rede und von mangelndem Integrationswillen. Dabei hat die Mehrzahl der zu Hause Unterrichtenden ihre Kinder zuerst in normale Schulen geschickt, alternative Schulformen ausprobiert und dann erst gewagt, den individuellen Problemen mit einer eigenen Lösung zu begegnen. Diese Probleme sind vielseitig: Hochbegabung oder Lernschwächen in einem bestimmten Fach, besondere Sensibilität gegenüber Mobbing, Erkrankungen des Kindes können im normalen Schulbetrieb nicht berücksichtigt werden. Die individuelle Förderung bleibt oft ebenso auf der Strecke wie die Vermittlung oder wenigstens Einhaltung grundlegender Verhaltensnormen und Werte.

Die wenigsten Eltern fühlen sich durch die Schulpflicht in ihrer Religionsfreiheit eingeschränkt. Insofern ist Familie Dudek ein Sonderfall, denn ihr Gewissen und ihr Glaube bestimmen ihre Entscheidung. Sie sind überzeugt, nichts Unrechtmäßiges zu tun. Juristisch betrachtet macht das die Sache für sie nicht einfacher. Auch die meisten Medien konzentrieren sich auf diese Tatsache und schmähen die Dudeks als christliche Fundamentalisten, mutmaßen, daß sie von Sozialhilfe lebten, oder werfen ihnen gar vor, "am rechten Rand" zu stehen. Um die Rechtmäßigkeit nichtschulischen Lernens geht es eigentlich nie. Eine öffentliche Debatte wird also vermieden, obwohl Schätzungen von etwa eintausend Personen deutschlandweit ausgehen, die Hausunterricht betreiben, sich aber lieber versteckt halten.

Die Dudeks bemühen sich dagegen besonders um Offenheit. Von Anfang an dokumentieren sie ihren Unterricht genau und boten den Behörden an, sie zu kontrollieren. Mit der Einstellung, nichts verbergen zu müssen, treten sie auch der Presse gegenüber. Sie wollten nicht den Eindruck erwecken, sich abschotten zu wollen. Das würde auch gar nicht zu ihnen passen. Jürgen Dudek hat viel von der Welt gesehen: Seine Kindheit verbrachte er im Ausland, sein Vater war leitender Angestellter eines großen deutschen Unternehmens. Das Abitur legte er in der namibischen Hauptstadt Windhuk ab. Später arbeitete er als Journalist, unter anderem für eine japanische Zeitung.

Nie würde er seinen Kindern die Welt vorenthalten wollen. Musikunterricht, Schwimmgruppe, Freiwillige Feuerwehr und Pfadfindertreffen halten Eltern und Kinder am Nachmittag auf Trab. Neben Freude am Leben möchten sie ihren Kindern aber auch ein Gefühl für das Staatswesen geben: "Sie sollen gute Staatsbürger werden, die Gemeinschaft zu schätzen wissen und für sie wertvoll sein." Eine gute Ausbildung, aber auch die Sicherheit in ihrem festen Glauben sollen sie mitnehmen. Es steht zu befürchten, daß die Kinder nun einen ganz anderen Eindruck bekommen von einer Demokratie als der "Herrschaft des Volkes", dessen Vertreter den Pluralismus beschwören, aber immer mehr die Hoheit über die Kinderköpfe für sich beanspruchen.

Für den ältesten Sohn, Jonathan, ist die Sache schon durchgestanden. Er hat bereits eine Lehrstelle angetreten. Vorher aber hat er Anfang des Jahres für einige Monate die örtliche Realschule besucht, um dort seinen Abschluß zu machen. Eine Externenprüfung hatte das Schulamt nicht zugelassen. Jonathan wurde Klassenbester. Eine Durchschnittsnote von 1,1 krönt nun die Anstrengungen seiner Eltern. Und bestärkt sie.

 

Stichwort: Hausunterricht:

Literatur: Ralph Fischer / Volker Ladenthin: Homeschooling -- Tradition und Perspektive, Ergon-Verlag, Würzburg 2006, 294 Seiten, broschiert, 38 Euro

Internetseiten zum Thema:

Netz für Bildungs- statt Schulpflicht: www.netzwerk-bildungsfreiheit.de

Informationsportal für schulfreie Bildung: www.homeschooling.de

Freies christliches Heimschulwerk: www.philadelphia-schule.de

Initiative deutscher Hausschulfamilien: www.hausunterricht.org

Rechtshilfeorganisation Schulunterricht zu Hause e.V.: www.schuzh.de

Erfahrungsberichte: www.bildungsfreiheit.blogspot.com

Foto: Familie Dudek in ihrem Unterrichtsraum: "Die Kinder sollen gute Staatsbürger werden"

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