© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/08 26. September 2008

Vertragstreue mit Wortbruch
Hitlers Heim-ins-Reich-Politik gegenüber der Tschechoslowakei, das Münchener Abkommen und verspieltes außenpolitisches Vertrauen
Gerd Schultze-Rhonhof

Runde Jahrestage wenden unseren Blick zurück auf besondere Ereignisse der Vergangenheit. Am 30. September jährt sich zum 70. Mal der Tag des Münchener Abkommens, in dem die Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und Deutschlands die Abtretung der Sudetenlande von der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich besiegelt haben.

Zur Vorgeschichte: Die 3,5 Millionen Sudetendeutschen verlangen, wie die Slowaken, Ungarn, Polen und Ruthenen, seit 1920 ihre Autonomie innerhalb der Tschechoslowakei. Als die nicht zugestanden wird, drängen die fünf genannten Volksgruppen auf ihre Loslösung von ihrem ungeliebten Staat. Am 20. Februar 1938 greift Hitler erstmals öffentlich in die Sudetenfrage ein und verlangt in einer Rede vor dem Reichstag die Selbstbestimmung für die Deutschen in der Tschechoslowakei.

Nun steuern die Ereignisse auf die Konferenz von München zu. Der britische Premierminister Neville Chamberlain ist gewillt, Hitlers Forderungen weit entgegenzukommen. Er reist am 15. September 1938 nach Berchtesgaden. Hitler verlangt nun erheblich mehr. Er fordert die Angliederung der Sudetenlande an das Deutsche Reich und sagt, das erfolge nun entweder auf dem Verhandlungswege oder mit Gewalt. Chamberlain nimmt Hitler das Versprechen ab, von der Gewalt so lange abzusehen, wie er vermittelt. Er reist zurück nach London und empfängt dort sofort den französischen Ministerpräsidenten Édouard Daladier. Chamberlain und Daladier einigen sich darauf, die Tschechen aufzufordern, die Landesteile mit über fünfzig Prozent sudetendeutscher Bevölkerung ohne Volksabstimmung an das Deutsche Reich abzutreten. Interessant ist, warum gerade die Franzosen eine Volksabstimmung in der Tschechoslowakei ablehnen. Daladier argumentiert, daß eine Abstimmung in der Tschechoslowakei die deutschsprachigen Elsässer zu einer gleichen Forderung ermuntern könnte.

Eile, bevor die Falken bei den Alliierten an der Macht sind

Am frühen Nachmittag des 19. September wird dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Edvard Beneš die britisch-französische Forderung übergeben, die sudetendeutschen Gebiete an Deutschland abzutreten. Beneš begibt sich mit dem Kabinett für 30 Stunden in Klausur. Am 20. September um 20 Uhr übermittelt der tschechoslowakische Außenminister Kamil Krofta den Briten und Franzosen ein klares Nein zur Abtretung. Um 22 Uhr schon wankt das klare Nein. Ministerpräsident Milan Hodža läßt nach Paris und London übermitteln, daß Staatspräsident Beneš zum Nachgeben bereit wäre, wenn Großbritannien und Frankreich erklären würden, daß sie die Tschechoslowakei im Falle eines Krieges nicht unterstützen würden. Die Antwort aus Paris und London lautet: "Indem die tschechoslowakische Regierung den britisch-französischen Vorschlag ablehnt, übernimmt sie die Verantwortung dafür, daß sich Deutschland entschließt, zu den Waffen zu greifen."

Am 21. September um 17 Uhr übergibt Außenminister Krofta den Botschaftern Großbritanniens und Frankreichs die endgültige Entscheidung der tschechoslowakischen Regierung und des Staatspräsidenten Beneš. Sie lautet: "Der englisch-französische Plan zur Abtretung der mehrheitlich von Sudetendeutschen bewohnten Gebiete wird mit dem Gefühl des Schmerzes akzeptiert." Das ist die Prager Abtretung vom 21. September 1938, eine Woche vor der Konferenz von München. Mit dieser Abtretungserklärung hätte die sudetendeutsche Frage eigentlich abgeschlossen werden können. Doch es kommt anders.

Als Chamberlain am Tag darauf Hitler in Bad Godesberg von der Einwilligung der Prager Regierung informiert, schiebt Hitler zwei neue Forderungen nach. Er fordert - nach einer inzwischen erfolgten Mussolini-Intervention -, daß auch den Ungarn und Polen in der Tschechoslowakei die gleichen Rechte wie den Sudetendeutschen zugestanden werden. Und er fordert zweitens, daß die abzutretenden Gebiete binnen einer Frist von nur vier Tagen von der Tschechoslowakei an Deutschland übergeben werden. Chamberlain ist empört über Hitlers neue Forderungen.

Hitler hat später keinen der acht Punkte gebrochen

Hitler ist dank des deutschen Abhördienstes inzwischen über Entwicklungen informiert, die selbst Chamberlain nicht kennt. Zum einen hat der französische Minister Georges Mandel Präsident Beneš in dem schon erwähnten Telefonat aufgefordert, den Deutschen Widerstand zu leisten. Mandel hatte dabei "die Kanonen Frankreichs, Großbritanniens und der Sowjetunion" in Aussicht gestellt. Zum anderen hat die Prager Regierung auf Telefonleitungen, die durch das Reich verlaufen, offen mit den tschechischen Botschaftern in Paris und London darüber gesprochen, daß nun Zeit gewonnen werden muß, bis die Opposition in beiden Ländern Daladier und Chamberlain stürzt und durch neue, kriegsbereite Regierungschefs ersetzt. Hitler hat Kenntnis von der Kabinettskrise in Paris und ist sich der Gefahr bewußt, daß schon in Kürze statt des "Friedenspremierministers" Daladier ein neuer Premier aus dem Nest der Falken einen Konfrontationskurs gegen Deutschland fahren könnte. So hat es Hitler plötzlich eilig.

Die weiteren Vermittlungsbemühungen Chamberlains führen vorerst nicht zum Ziel. Hitler stellt der tschechoslowakischen Regierung ein Ultimatum für die Übergabe der sudetendeutschen Gebiete. Die Prager Regierung geht nicht darauf ein. Stunden vor Ablauf des Ultimatums kann Mussolini Hitler davon überzeugen, daß der tschechisch-deutsche Streit in einer Konferenz mit den Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und Deutschlands geregelt werden sollte. Es kommt am 29. und 30. September 1938 zu jener berühmten Konferenz in München.

Die vier Regierungschefs einigen sich darauf, daß vier kleinere sudetendeutsche Gebiete mit eindeutiger deutscher Mehrheit in den Tagen vom 1. bis zum 10. Oktober von deutschen Truppen besetzt und an Deutschland übergeben werden, und daß ein internationaler Ausschuß aus Tschechen, Deutschen, Italienern, Franzosen und Briten die weiteren abzutretenden Gebiete festlegen soll. Das Abkommen, das diese Dinge festlegt, das Münchener Abkommen, besteht aus acht Punkten. Sie regeln die Übergabe der Gebiete an Deutschland, die Einrichtung des Internationalen Ausschusses, das Optionsrecht für Deutsche und Tschechen im jeweils anderen Staat und anderes mehr. Alle acht Punkte sind zu deutschem Vorteil, und Hitler hat später keinen der acht Punkte gebrochen und damit auch das Münchener Abkommen nicht.

Der genaue Wortlaut des Münchener Abkommens ist es wert, aufmerksam studiert zu werden. Die Präambel lautet: "Deutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien sind unter Berücksichtigung des Abkommens, das hinsichtlich der Abtretung des sudetendeutschen Gebiets bereits grundsätzlich erzielt wurde, über folgende Bedingungen und Modalitäten dieser Abtretung und über die danach zu ergreifenden Maßnahmen übereingekommen."

Hiermit drücken die vier Unterzeichner aus, daß die Abtretung nicht in München, sondern im Grundsatz schon zuvor entschieden worden ist. Die Formulierung "des Abkommens, das (...) bereits grundsätzlich erzielt wurde", bezieht sich ausdrücklich auf die "Prager Abtretung" vom 21. September 1938. Die Abtretung ist zwar auf massiven deutschen Druck erfolgt, aber dennoch nicht zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei vereinbart worden. Und das hat eine lange Vorgeschichte, die mit Punkt 2 des Abkommens erkennbar wird. Dieser lautet: "Das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien vereinbaren, daß die Räumung des Gebiets bis zum 10. Oktober vollzogen wird."

Hier ist Deutschland nicht erwähnt, und das hat seinen Grund. Nur die drei Siegermächte des Ersten Weltkriegs vereinbaren die Räumung der Sudetenlande mit der Tschechoslowakei, weil nur sie es sind, die den Tschechen die Rechte an den deutschen Gebieten wieder aberkennen können, die sie ihnen im November 1918 unter falschen Voraussetzungen zugesprochen hatten. Der tschechische Außenminister Beneš hatte den Siegern 1918 in Paris falsche Angaben zu dem Bevölkerungsanteil der Deutschen und zu ihren Siedlungsflächen vorgelegt und zudem versprochen, die nationalen Minderheiten nach Art der Schweiz an ihrem neuen Staate zu beteiligen. Mit Punkt 2 des Abkommens korrigieren die Siegermächte von 1918 einen ihrer in Saint-Germain gemachten Fehler.

Damit ist die Geschichte der Sudetendeutschen in der ersten Tschechoslowakei von 1918 bis 1938 eigentlich berichtet. Doch der Vorwurf, Hitler habe das Münchener Abkommen mit der späteren Besetzung der Tschechei gebrochen, geistert zäh wie Unkraut durch die deutsche Geschichtsschreibung. Deshalb hierzu ein Nachtrag.

Kein unterzeichnender Staat gibt die Garantie ab

Daß Hitler keinen der acht Punkte des Münchener Abkommens gebrochen hat, ist bereits erwähnt. Das Abkommen hatte allerdings drei Zusatznoten. Die erste verpflichtet die vier Unterzeichnerstaaten, die territoriale Unversehrtheit der Tschechoslowakei fortan zu garantieren, und zwar nach der Regelung der bis dahin nicht beigelegten tschechisch-polnischen und tschechisch-ungarischen Minderheiten- und Grenzstreitigkeiten. Gut einen Monat nach Unterzeichnung des Münchener Abkommens liegen die Regelungen für beide Grenzprobleme vor. Nun hätte Deutschland seine Garantie gegenüber Prag abgeben müssen.

Doch keiner der vier Unterzeichnerstaaten gibt die Garantie ab. Jeder schiebt den anderen vor. Die Regierungen in Rom, Berlin und London sind nun der Auffassung, daß man die äußeren Grenzen eines Staates, der von innen her zerfällt, nicht von außen garantieren sollte. Auch Frankreich spricht die Garantie nicht aus, auch wenn es die anderen drei Staaten ständig mahnt, die Garantien endlich abzugeben. Man kann der deutschen Reichsregierung vorwerfen, daß sie die zugesagte Garantie nicht abgegeben hat, so wie man das den Briten, Franzosen und Italienern vorwerfen kann. Aber ein Bruch des eigentlichen Münchener Abkommens ist das nicht.

Etwas ganz anderes ist allerdings Hitlers Wortbruch gegenüber Chamberlain. Beide schließen - noch in München - ein Konsultationsabkommen, das Hitler sechs Monate danach mit dem Alleingang der Besetzung der Tschechei bricht. Das hat jedoch mit dem Münchener Abkommen nichts zu tun. Dieser Wort- und Vertragsbruch Hitlers ist von weltgeschichtlicher Bedeutung. Damit schneidet er den Faden zur britischen Regierung durch, die sich nach dem Einmarsch der Wehrmacht in das Protektorat Böhmen und Mähren fragt: "What next?" Mit diesem Vertrags- und Wortbruch schlägt Hitler selbst die Tür für eine spätere und mit den Briten einvernehmlich zu treffende Regelung der deutsch-polnischen Probleme zu. Wir wissen, was dem alles folgt.

 

Gerd Schultze-Rhonhof ist Generalmajor a.D. und Autor von "1939 - Der Krieg, der viele Väter hatte" (München 2003). Diesen Herbst erscheint "Das tschechisch-deutsche Drama 1918-1939. Errichtung und Zusammenbruch eines Vielvölkerstaates als Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg." (Olzog Verlag, München 2008, gebunden, 512 Seiten, Abbildungen, 34 Euro).

 

Foto: Chamberlain und Hitler während der Münchener Konferenz, September 1938: Abtretung im Grundsatz schon zuvor entschieden

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