© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/08 17. Oktober 2008

Letzte Ruhe in der Zone
Uwe Tellkamps Betrachtungen der sterbenden bürgerlichen Welt in den letzten Tagen der DDR
von Thorsten Hinz

Für diesen Roman wurde Uwe Tellkamp der Uwe-Johnson-Preis bereits zu einem Zeitpunkt zugesprochen, als er noch gar nicht in Buchform vorlag. Eine befremdliche Praxis, weil ein Preis eine allgemein anerkannte und nachprüfbare Leistung würdigen und nicht als Werbecoup dienen soll. Aber wenigstens wurde der Richtige erwählt, denn Tellkamp hat einen großartigen Roman verfaßt. In seiner Dankrede kritisierte er die aktuelle "Bevorzugung des Temperierten, der mittleren Preislagen". Kunst jedoch bedeute die "Erweiterung der Grenzen, Polar- und Urwaldexpedition des Geistes, heißt Weltschöpfertum und prometheische Anmaßung des Gottspielens, heißt Größenwahn und Widerstand". Er bekannte sich zum "Pathos, (...) das weder sentimental noch hochtrabend ist". Die marktgängige ironische Grundhaltung kritisierte er als das bequeme Rückzugsgebiet der Mutlosen und Zynischen. "Ironie stellt in Frage, Pathos sucht nach einer Antwort."

Tellkamp sprach pro domo. Denn das Verdikt der Ironiefreiheit, verbunden mit der vergifteten Unterstellung, er gründele in faschistischen Untiefen, hatte ihn anläßlich des Buchs "Der Eisvogel" 2005 selber ereilt. Im "Eisvogel" versuchte er, die Möglichkeit einer elitären Revolte von rechts durchzuspielen, im radikalen Geist des Pathetikers Hans-Jürgen Syberberg, dessen Hitler-Film mit dem Kommentar anhebt: "Als die gute alte Demokratie des 20. Jahrhunderts in die Jahre kam, schickte sie Boten in alle Richtungen, die den Grund des Elends in der Welt erforschen sollten. Als die Boten zurückkamen, mußten sie erfahren aus Ost und West, Nord und Süd, von allen Computern, den Unbestechlichen, wie man sagt, daß sie selbst, die Demokratie, die gute alte, die Ursache allen Elends war, des 20. Jahrhunderts." Soviel Ironie mag der Kulturbetrieb denn doch nicht ertragen. Was dieser Begriff bezeichnet, sind Selbstzufriedenheit und das gackernde Einverständnis mit dem Gegebenen, so daß es heute gerade der Pathetiker ist, bei dem die Ironie, die den Namen verdient, aufgehoben ist.

Tellkamp wurde 1968 in Dresden geboren und ist dort aufgewachsen. Das Ende der DDR - dessen unblutiger Verlauf keineswegs selbstverständlich war - erlebte er als NVA-Soldat. Spätestens bei dieser Gelegenheit hat sich ihm eingeprägt, daß im Leben existentielle Situationen möglich sind, in denen man sich ohne Sicherheitsnetz entscheiden und bewähren muß und das Vokabular der lau Temperierten nicht weiterhilft.

"Der Turm" ist ein Roman über die letzten sieben Jahre und den politischen, materiellen und geistigen Kollaps der DDR. Schauplatz ist der Weiße Hirsch, das Villenviertel an den Elbhängen über Dresden. In den traumversponnenen, maroden Häusern überwintern die letzten Erben des deutschen Bildungsbürgertums. Der Buchtitel weckt Assoziationen an die Turmgesellschaft aus Goethes "Wilhelm Meister" und die gleichnamige Tragödie Hugo von Hofmannsthals, wo der Turm ein Symbol der Innerlichkeit ist. Die "Türmer" verweisen aber auch auf Ingo Schulzes ähnlich voluminösen Roman "Neue Leben" (2005), dessen Ich-Erzähler Enrico Türmer heißt und der seinerzeit (reichlich übertrieben) als weltliterarisches Wunderwerk gepriesen wurde.

Tellkamp hat ihn an erzählerischer Stringenz, atmosphärischer Dichte und Sprachkraft klar übertroffen. Seinen prometheischen Anspruch verdeutlicht er gleich im Eingangskapitel ("Ouvertüre") mit seinen Anklängen an das "Rheingold"-Vorspiel, in dem Wagner über 136 Takte Figurationen auf dem Es-Dur-Akkord komponierte, um die Bewegung des Flusses zu simulieren und die Stimmung zu schaffen, in der das Weltendrama über Gier, Macht und Verrat anhebt. Tellkamps Rhein ist die Elbe.

Den Knotenpunkt der Erzählstränge bildet der Schüler Christian Hoffmann, ein Alter ego des Autors, der später eine wahre Horrorzeit bei den Panzertruppen der NVA durchlebt. Sein Vater, ein angesehener Chirurg, unterhält heimlich eine Zweitfamilie, die Stasi versucht, ihn mit dem Wissen um das Doppelleben zu Spitzeldiensten zu erpressen. Sein Onkel Meno, in Moskau als Sohn kommunistischer Emigranten geboren und in einem elitären Verlag tätig, hat Zugang in das benachbarte "Ostrom", wo die Nomenklatura wohnt. Der Physiker Manfred von Ardenne heißt Baron Arbogast, der Leser begegnet Schriftstellern, in denen sich die Züge von Peter Hacks, Stephan Hermlin und Franz Fühmann mischen. Es ist ein riesiges Figurenensemble, über das der Autor nur selten einmal den Überblick verliert.

Manche der Türmer schotten sich konsequent ab, hören Opernplatten, am liebsten historische Aufnahmen von den großen Sängern, die sie vor 1945 auf der Bühne der Semperoper erlebt hatten. Eine Spieluhr tönt: "Dresden ... in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern". Aber dieser Bezirk der Innerlichkeit ist nur eine andere Art der Gefangenschaft. Die Häuser verrotten, die großen Wohnungen sind parzelliert und beengt, parteifromme Neubewohner werden eingewiesen und zerstören die vertraute Harmonie. Voller Beklemmung liest man, wie ein Staatsgebilde, um sein Ende hinauszuzögern, unbarmherzig alle öffentliche und private Substanz verschleißt. Die Luft ist von Braunkohlenrauch erfühlt, der sich mit der Nässe mischt und als schmieriger Film über die Stadt und das Land legt.

Stillstehende, dahinschleichende Uhren bilden ein Leitmotiv im Roman. Dann aber setzt sich die Zeit in Bewegung, Geschichte wird gemacht. Der ruhig wogende Rhythmus der Ouvertüre steigert sich zum reißenden Malstrom. Die letzten achtzig, neunzig Seiten mit ihren sich überstürzenden Szenen, Bildern, Reflexionen erinnern an das Schlußkapitel in Marcel Prousts "Suche nach der Verlorenen Zeit", in dem sich alle Schleusen der Erinnerung öffnen und die verlorene Zeit in den Erzähler zurückflutet.

" ... aber dann auf einmal ...

schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, 'Deutschland einig Vaterland', schlugen ans Brandenburger Tor:" Hinter dem Doppelpunkt kommt nichts mehr. Was der Dichter uns damit wohl sagen will? Wurde nun alles, alles gut? Oder hat sich - der "Eisvogel" läßt grüßen - nur das Tor eines kleinen Irrenhauses zu einem größeren aufgetan?

Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, gebunden, 975 Seiten, 24,80 Euro

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