© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/08 31. Oktober 2008

In der Obhut der Raserei
Kärnten als Massengrab: Der diesjährige Georg-Büchner-Preis geht an Josef Winkler
Harald Harzheim

Wenn ein Büchner-Preisträger dem Werk des Namenspatrons irgendwie verbunden sein soll, dann ist Joseph Winkler ein besonders würdiger Kandidat. Denn Georg Büchners Werk zeigt neben Politik und Gesellschaftsanalyse doch ein ausgeprägtes Bewußtsein von Tod und Vergehen, was die Rezeption oft genug vernachlässigt hat: so im Kindermärchen vom toten Universum ("Wozzeck") oder durch die permanent arbeitenden Guillotinen in "Dantons Tod". Im Finale des Revolutionsdramas singt die Witwe des Camille Demoulin, wahnsinnig vor Trauer, das Lied: "Es ist ein Schnitter, der heißt Tod". Dieser Schnitter, das ist auch der entscheidende Impulsgeber für Josef Winklers Werk.

In seinen Romanen wütet der Tod von der ersten bis zur letzten Seite. Die Leichen stapeln sich derart, daß Grauen in befreiendes Gelächter umschlägt. In "Der Ackermann von Kärnten" (1980), "Der Leibeigene" (1987), "Friedhof der bitteren Orangen" (1990), "Wenn es soweit ist" (1998) bis zum jüngsten Werk "Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot" (2008) rasselt und rasselt die Guillotine der Natur und kommt nie zur Ruhe. Schon Marcel Reich-Ranicki wußte: Die Lektüre ist vielleicht nicht angenehm, aber man spürt: Dieser Autor muß schreiben!

Wenn der Vater ihn nicht liebte, soll er um ihn trauern

Josef Winklers Leben begann am 3. März 1953 als jüngstes Kind einer Bauernfamilie in Kärnten - einer miefigen Provinz, nicht nur Ort der Jugend, sondern auch ständiger Schauplatz seiner Romane. Winkler glaubt, daß mangelnde Akzeptanz durch den distanzierten Vater seine (bislang) lebenslange Todesphobie provoziert habe. Schon auf der ersten Seite des frühen "Ackermann aus Kärnten" trägt ein alter Bauer seinen toten Jüngling, was unvermeidlich an eine Pietà erinnert. Wenn der Vater ihn schon nicht liebte, soll er wenigstens um ihn trauern: ein weitverbreitetes Wunschdenken einsamer Kinder.

Seit 1982 ist Josef Winkler als freier Autor und Dozent der Universität in Klagenfurt tätig, hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten. So den Bettina von Arnim-Preis (1995), den Berliner Literaturpreis (1996) den Alfred Döblin-Preis (2001), usw. Jetzt folgt also die mit 40.000 Euro höchstdotierte Ehrung, der Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Bereits in jungen Jahren interessierte sich Winkler für Büchner - wegen dessen kurzer Lebensspanne: "Aus einer Monographie erfuhr ich, daß Wolfgang Borchert mit vierundzwanzig Jahren gestorben ist, und ich sagte mir, Noch habe ich sieben, acht Jahre Zeit! Ein paar Jahre später stieß ich auf Lautréamont, der ebenfalls mit vierundzwanzig starb, auf Georg Büchner, Thomas Chatterton, Raymond Radiguet, bald auf Cesare Pavese, Paul Celan und Georg Heym." Winkler selbst hat das 24. Lebensjahr weit überdauert, aber die Todesangst ließ sich nicht verjagen.

So erzählt eine Kalendergeschichte aus "Friedhof der bitteren Orangen" von einem Mädchen, das am Tag ihrer Erstkommunion überfahren wird. Das könnte bei vielen Autoren stehen - aber selten ein Satz wie dieser: "Kaum eine halbe Stunde, nachdem sich die Braut Jesu das erstemal in ihrem kurzen Leben den Leib Christi einverleiben konnte, lag sie mit der noch unverdauten Hostie, auf der in Art eines Wasserzeichens eine Dornenkrone eingeprägt war, im blutbespritzten weißen Erstkommunionkleid auf dem Asphalt."

Wer würde bei diesem Szenario an die unverdaute Hostie im Magen der Toten denken? Josef Winkler, der Leben, Religion und Tod in ihrer materiellen - oder besser - organischen Dimension beschreibt. Mehr noch: ästhetisiert. Wie sein Vorbild Baudelaire sucht er nach der Schönheit der Fäulnis und der Maden. Der Autor reflektiert nicht, er sieht sich - nach eigenem Bekenntnis - als "eine Art Photoapparat oder Filmkamera". Er fragt nicht nach dem Warum des Schreckens, sondern läßt sich zu Bildern anregen, ringt ihm die Schönheit der Verwesungsfarbe ab.

An anderer Stelle phantasiert der homosexuelle Ich-Erzähler von einer aufgebarten, blau angelaufenen Knabenleiche und der betend weinenden Mutter des Jungen; in der detailliert beschriebenen Szene mischt sich inzestuöser Mißbrauch mit archaischem Fruchtbarkeitsritus. Schon Antonin Artaud wußte, daß Menschen in Zeiten des Todes der Raserei verfielen. Und fast alle Protagonisten in Winklers Werk flüchten in ihre Obhut. Zwanghaft sagen sie Gebete und Litaneien auf, stellen dem Schmerz Phantasien entgegen, die jede Grenze überschreiten. Winklers heimatliches Kärnten ist der Ort des Todes, wo die Familie, der Pfarrer, die Nonnen zu Psycho-Monstern mutieren. Deren (noch) lebendes Fleisch Blut, Fäkalien und Sperma ab- und aussondert. Dieser physiognomische Blick führt unmittelbar zur Abhandlung "Über Schädelnerven", verfaßt vom Medizinstudenten Georg Büchner.

Hinter seiner morbiden Schönheit lauert das Nichts

Bei Winkler fehlt jeder Hinweis, daß jenseits der Verwesung eine Transzendenz zu erfahren, ein Flüstern Gottes zu hören wäre. Hinter seiner morbiden Schönheit lauert das Nichts. "Ich arbeite an einer Sprachmaschine, die den Tod in alle Einzelteile meiner Knochen zerlegen wird", erklärt der Autor. Da ist es gleich, ob er diese Sprachmaschine in Kärnten oder beispielsweise in Indien aufstellt. Denn er flog mehrere Male zu indischen Einäscherungsplätzen. Beschreibungen der Totenverbrennungen finden sich in dem Buch "Domra. Am Ufer des Ganges".

Büchner ließ Saint Just von der Grausamkeit der Natur, mit ihren Seuchen und Katastrophen berichten. Wenn die Natur eine Todesmaschine ist, dann ist Winklers entscheidende Leistung nicht die Kompensation der Angst durch Schreiben. Da mag seine Literatur auch noch so gut sein. Nein, der größte Kraftakt bestand darin, geheiratet und Vater zweier Kinder geworden zu sein. Immerhin impliziert die Zeugung neuen Lebens im Angesicht des Todes eine größere Überwindung von Angst, als durch literarisches Schaffen je zu erreichen wäre. Damit ist Winkler gelungen, was Büchner nur planen, aber nicht realisieren konnte, weil er zuvor an Typhus starb: ein weiterer Grund, weshalb der Büchner-Preis in Winklers Händen richtig ist.

Josef Winkler: Die Guillotine der Natur kommt nie zur Ruhe

Das literarische Werk Josef Winklers erscheint im Suhrkamp-Verlag.

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