© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/08 14. November 2008

Wirtschaft
Der Autostau und der Aufschwung
Dieter Stein

Was hat die Weltwirtschaft mit einer Autofahrt zu tun? Vielleicht eine Menge. Sie werden es auch schon viele Male erlebt haben: Sie sind auf der Autobahn. Plötzlich sehen Sie vor sich langsamer fahrende Wagen, die ihre Warnblinkanlage angeschaltet haben. Im Rückspiegel sehen Sie, daß hinter Ihnen ebenfalls schon zahlreiche Fahrzeuge die Warnleuchten benutzen. Gerade noch floß der Verkehr mit einer Geschwindigkeit um 130 Stundenkilometer flüssig vor sich hin. Jetzt geht es auf einmal nur noch im Schrittempo vorwärts. Wenig später stehen Sie, und um Sie herum werden bereits die Motoren abgestellt. Manche packen ihre vorsorglich eingewickelten Klappstullen aus, andere schlagen fluchend aufs Lenkrad. Ab und zu schlängeln sich Motorräder an den Autoreihen vorbei.

Nach einer Weile setzt sich der Verkehr wieder in Bewegung, die Autos nehmen langsam Fahrt auf. Sie rätseln: Woher kam der Stau? Da sehen Sie auf der Standspur einen Kleinwagen stehen, ein Mann hat die Motorhaube geöffnet und blickt auf das qualmende Innere. Ein Kolbenfresser? Kühlwasser alle?

Jeder Autofahrer mustert im Vorbeifahren aufmerksam den havarierten Verkehrsteilnehmer - kaum sind sie vorbei, beschleunigen alle wieder, der Stau hat sich in Luft aufgelöst. Der ganze Stillstand - ein Ergebnis kollektiver Unvernunft. Wären alle zügig an dem Pannenwagen vorbeigefahren, nie wären Tausende von Autos minutenlang zum Stehen gekommen.

Nicht anders als die Autofahrer verhalten sich offenbar derzeit Marktteilnehmer - vom Unternehmer bis zum Konsumenten. Sicherlich sind die der aktuellen Finanzkrise zugrunde liegenden Ursachen (Immobilienblase, Handel mit faulen Krediten) weniger mit einem Pannenauto auf der Standspur, sondern eher mit einer veritablen Karambolage zu vergleichen.

Dennoch verhalten sich viele Menschen so, daß sie die Lage nicht entschärfen, sondern kollektiv sogar die Folgen der Krise noch potenzieren. Hysterie macht sich breit, die "Angst vor der Angst" (ein Spiegel-Titel der vergangenen Wochen). In einer Art Trittbrettfahrer-Verhalten nutzen manche Großunternehmen gar die "Gunst" der Stunde und setzen zum Kahlschlag an. Überall heißt die Parole: Vollbremsung. Wie im Stau. Da treten Leute auf die Bremse, selbst wenn das Stauende noch weit entfernt ist. Oder ordnen sich einspurig, obwohl man noch fünf Kilometer mehrspurig fahren könnte.

Warum ist das so? Der deutsche Wirtschafts-Nobelpreisträger und Mitbegründer der Experimentellen Ökonomik Reinhard Selten erklärt es uns: "Das in der Wirtschaftstheorie vorherrschende Bild des ökonomischen Verhaltens geht von sehr starken Rationalitätsannahmen aus, die in der Realität nicht erfüllt sind. Wären die Wirtschaftssubjekte im Sinne der Wirtschaftstheorie voll rational, so könnte man die Märkte sich selbst überlassen, ohne daß es zu schwerwiegenden und langanhaltenden Ungleichgewichten kommen kann." Deshalb: Bitte zügig weiterfahren und aufschließen!

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