© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/08 14. November 2008

Messias auf einem Scherbenhaufen
USA: Obama und die Demokraten siegten wegen Bush - und weil sie angesichts der Finanzkrise eine stärkere Rolle des Staats versprachen
Elliot Neaman

Nach dem Ende des Kalten Krieges war viel von einer sogenannten Friedensdividende die Rede. Derzeit zollt die ganze Welt Amerika eine Art "Obama-Dividende" mit Sofortkredit. Doch genauso wie die Friedensbonus damals nicht lange vorhielt, muß auch dem künftigen US-Präsident bitter bewußt sein, daß er einen Haufen wirtschaftlicher, politischer und militärischer Probleme erben wird, die diesen Kredit schnell aufbrauchen könnten.

Bevor uns jedoch die kalte Wirklichkeit einholt, besinne man sich einen Moment lang darauf, was mit diesem Wahlsieg erreicht worden ist. Obama hat sich selber einmal als eine unbeschriebene Tafel bezeichnet, auf die alle möglichen Träume, Wünsche und Ideale projiziert werden. Er ist ein ungemein intelligenter Politiker mit viel Charisma, aber die Grundsteine für seinen Sieg wurden von anderen gelegt, die ihm vorausgingen. Nicht zuletzt verdankt er ihn einer veränderten Stimmung im Land.

Der 4. November ist eine historische Wendemarke

Aus folgenden Gründen wird der 4. November als historische Wendemarke in die Geschichtsbücher eingehen: Erstens gab die Wahl Oba­mas den Amerikanern ihren Glauben an den demokratischen Prozeß zurück. George W. Bush scheiterte als Präsident, so sahen es viele, weil ihm das Amt vor acht Jahren von einem rechtsgerichteten Obersten Gerichtshof angetragen wurde und er im Anschluß daran seine Präsidentschaft mißbrauchte, um mit Hilfe von Mitläufern und persönlichen Freunden ein einseitiges parteipolitisches Programm durchzusetzen. Bush und sein Vize Dick Cheney nutzten die Anschläge vom 11. September 2001, um die Verfassung auszuhöhlen und die Macht der Exekutive bis zum Äußersten auszuweiten. Die Niederlage der Republikaner bei den Kongreßwahlen 2006 deutete bereits an, was sich nun bestätigt hat: Wenn das ideologische Pendel zu weit in eine Richtung ausschlägt, korrigiert es sich selber und schwingt zurück.

Die Begeisterung, mit der die Welt Obamas Sieg feierte, zeigt, daß diese Selbstkorrektur Amerikas Ansehen nach Abu Ghraib und der unilateralistischen Außenpolitik der Bush-Jahre wesentlich verbessern könnte. Im Vorfeld berichteten US-Auslandskorrespondenten immer wieder von der Skepsis der Menschen in anderen Ländern, ob die USA jemals einen Schwarzen zum Präsidenten wählen würden. In den Tagen nach Obamas Sieg waren sogar in den verheerten palästinensischen Ortschaften im Westjordanland Plakate mit seinem Antlitz zu sehen. Das arabische Wort baraka bedeutet "Segen", und so schien es in vielen Ländern tatsächlich. Das britische Magazin The Economist berichtete, in 56 Staaten seien über 90 Prozent der Bevölkerung für Obama gewesen.

Zweitens markiert Obamas Sieg natürlich eine wichtige Wende in den Rassenbeziehungen. Er zeigt eine historische Wahrheit über die US-Verfassung auf, daß das Versprechen von Rechten und Freiheiten für alle nämlich als fortdauerndes Projekt aufzufassen ist statt als abgeschlossener Prozeß. Afroamerikaner sahen Obama anfangs nicht als einen der Ihren, weil seine eigene ethnische Herkunft nichts mit dem Vermächtnis der Sklaverei zu tun hatte und er deshalb als Außenseiter im Kampf der Schwarzen um Anerkennung als vollwertige Gesellschaftsmitglieder wahrgenommen wurde. Zu den unvergeßlichen Bilder dieser Wahlnacht zählte der Anblick Jesse Jacksons, der Obamas Siegesrede im Grant Park in Chicago mit tränenden Augen zuhörte. Obama hat es geschafft, zum ersten schwarzen US-Präsidenten gewählt zu werden, und er hat diesen Sieg erreicht, ohne einen Wahlkampf als schwarzer Kandidat zu führen - getreu der Botschaft jener Ansprache, mit der 2004 auf dem demokratischen Parteitag sein Aufstieg begann. Damals sagte Obama: "Es gibt nicht ein schwarzes Amerika und ein weißes Amerika und ein Latino-Amerika und ein asiatisches Amerika - es gibt nur die Vereinigten Staaten von Amerika." Zwei Drittel aller Amerikaner hispanischer und asiatischer Abstammung stimmten für ihn.

Die Wahl Obamas ist zugleich ein Generationenwechsel

Drittens bedeutete diese Wahl einen Generationenwechsel. Obama erreichte große Mehrheiten in allen Altersgruppen bis auf die über Sechzigjährigen. Bei Jungwählern unter dreißig siegte er mit einem verblüffenden Vorsprung von 34 Prozent. Die Vorhersagen, jüngere Menschen würden sich bei aller Obama-Begeisterung wie üblich nicht zur Wahl bequemen, erwiesen sich als falsch. Der hohe Anteil unter den Jungen ist um so bedeutender, als diese Wählerschicht zumeist der Partei treu bleibt, für die sie sich einmal entschieden hat. Ronald Reagan band in den 1980er Jahren eine neue Generation an sich, die seither republikanisch wählt. Obama ist zudem selber jung genug, um für einen Abschied von den Kulturkämpfen der Sechziger zu stehen, die der "Millenniums-" oder "Internet-Generation" fremd sind.

Viertens hat sich die politische Landschaft enorm verändert. Obama gewann sämtliche Bundesstaaten, in denen auch seine Vorgänger Al Gore und John Kerry siegten, und errang zudem entscheidende Mehrheiten im Alten Süden, etwa in Virginia und North Carolina. Im Südwesten gewann er New Mexico, Nevada und Colorado, im Landesinnern zementierte er den Rückhalt der Demokraten von Minnesota und Iowa bis hin zu den Schlüsselstaaten Michigan, Ohio und Pennsylvania. Die allgemeine Auffassung lautet, Amerika sei nach wie vor eine Mitte-Rechts-Nation, und als Beleg werden Obamas vergleichsweise konservative bzw. kommunitaristische Positionen zu Grundwerten, Patriotismus und Außenpolitik angeführt. Doch die derzeitige Finanzkrise stimmt viele Bürger mißtrauisch gegenüber der von Reagan geprägten Philosophie eines schlanken Staats und unregulierter Märkte. Die Amerikaner mögen weiterhin alles ablehnen, was nach Sozialismus klingt, aber sie wollen Regierungsprogramme, die funktionieren - vor allem in der Gesundheitsvorsorge, der Energiepolitik und zur Reparatur ihrer baufälligen Infrastruktur. Die Demokraten siegten, weil sie ebensolche Programme versprachen.

Großer Umbruch wie bei Franklin Delano Roosevelt?

Die einzige demographische Gruppe, die die Republikaner halten konnten, waren die alternden weißen Südstaatler. Mit anderen Worten: Die Demokraten bekamen Wähler, die gerade Eigenheime beziehen, die Republikaner solche, die ins Altersheim ziehen. Damit sich die Partei davon erholen kann, ist ein grundlegendes Umdenken vonnöten. Eine Rückkehr zu den Wurzeln und dem Wertkonservatismus der Reagan-Jahre wäre ein Fehler zu einem Zeitpunkt, da die Wähler die Regierung nicht mehr als Feind sehen. Auch der einwanderungskritische Eifer ihres rechten Flügels hat der Partei hohe Verluste beschert und sollte überdacht werden, zumal der Anteil von Latinos und asiatischstämmigen Amerikanern an der Wählerschaft weiter zunehmen wird.

Angesichts der globalen Finanzkrise vergleichen Kommentatoren Obamas Wahlsieg inzwischen eher mit dem Erfolg Franklin Delano Roosevelts 1932 als mit jenem John F. Kennedys 1960. Während Roosevelt zum Zeitpunkt seiner Amtseinsetzung jedoch in der Bevölkerung nicht sonderlich beliebt war, werden in Obama von Anfang an immense Hoffnungen und Erwartungen gesetzt.

Alles, was über Obamas Vergangenheit und seine relativ kurze bisherige politische Laufbahn bekannt ist, läßt darauf schließen, daß er ein umsichtiger, pragmatischer Mensch ist. Freilich könnte sich in diesen gefährlichen, instabilen Zeiten ein allzu vorsichtiger, bedachtsamer Ansatz als der falsche herausstellen. Oba­ma wäre durchaus zuzutrauen, daß er sich wie einst Roosevelt als visionärer Präsident erweist, der vor Risiken und kühnen Schritten nicht zurückschreckt, um einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel in Gang zu setzen.

Sein Auftritt in der Wahlnacht im Grant Park war sachlich und besonnen. Obama stand alleine auf einer riesigen Plattform, ohne Musik, Luftballons oder das sonst übliche Tamtam. Er klang weder stolz noch aufgedreht, sondern das Gewicht der Präsidentschaft schien bereits schwer auf seinen Schultern zu lasten. 1972 spielte Robert Redford in "Der Kandidat" einen Idealisten, der sich zur Senatorenwahl aufstellen läßt und im Wahlkampf ohne Rücksicht auf Meinungsumfragen sagt, was er denkt. Nachdem er wider Erwarten die Wahl gewonnen hat, dreht er sich zu seinem politischen Berater um und fragt: "Und was machen wir jetzt?" So ähnlich muß sich Obama in diesen Tagen fühlen.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco.

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