© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/08 14. November 2008

Globale Politik der Nadelstiche
Strategische Rivalität: Ständiger Streit und gegenseitige Provokationen verschlechtern die amerikanisch-russischen Beziehungen
Martin Schmidt

Zu den vielen Problemen, mit denen der neue US-Präsident Barack Obama fertigwerden muß, gehören die stetig wachsenden außenpolitischen Rivalitäten mit Rußland. Dies bestätigte sich, als der Kreml-Herr Dmitri Medwedjew ausgerechnet kurz nach Bekanntwerden von Obamas Erfolg die Aufstellung eines Iskander-Raketenkomplexes sowie einer Radaranlage in Königsberg (Kaliningrad) als Antwort auf das geplante US-Raketenschild in Ostmitteleuropa verkündete.

Erst wenige Tage zuvor hatten die Energie- und Rüstungsgespräche des libyschen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi in Moskau für Ärger im State Department gersorgt. Gaddafi, der erstmals seit 23 Jahren wieder in die russische Hauptstadt gekommen war, soll nach Angaben der Zeitung Iswestija unter anderem am Kauf von Kampfjets, Panzern, Transporthubschraubern und U-Booten im Wert von bis zu 1,55 Milliarden Euro interessiert sein.

Symbolische Handlungen und mediale Propaganda

Auch der Georgien-Konflikt dürfte Obama nach seinem Amtsantritt im Januar noch für längere Zeit in Atem halten. Die Russische Föderation setzt im Kaukasus weiterhin auf eine rigorose Interessenpolitik, die auch die seit dem 1. Oktober in Georgien operierende EU-Beobachtermission zu spüren bekam. Deren Arbeit war von Anfang an durch ständige russische Behinderungen gekennzeichnet; die vertraglich bis zum 10. Oktober vereinbarte Räumung der sogenannten Sicherheitszonen an den Grenzen des georgischen Kernlandes zu den abtrünnigen Gebieten Abchasien und Südossetien ist bis heute nicht vollständig umgesetzt. Der Kreml behält sich dort einen Faustpfand zurück oder spielt zugunsten Südossetiens sogar mit dem Gedanken langfristiger Annexionen rein georgischer Grenzgebiete.

Das neuerliche Hickhack um territoriale Einflußbereiche und machtpolitisches Prestige in Georgien steht in einer langen Reihe beidseitiger Versuche, die seit dem "Olympiakrieg" im August grundlegend verwandelte weltpolitische Lage zu den eigenen Gunsten zu verändern. Neben konkreten Maßnahmen spielen dabei symbolische Handlungen und mediale Propaganda eine große Rolle. Rußland steht einem immer uneiniger auftretenden europäisch-amerikanischen Alliierten gegenüber, dessen stärkerer Part in letzter Zeit wegen der Banken- und Finanzkrise, des lähmenden Präsidentschaftswahlkampfes und der fortwährenden globalen Überstrapazierung seiner Machtmittel zusehends an Gewicht verlor.

So müssen sich die USA imperiale russische Einflußnahmen, ja Provokationen gefallen lassen, deren Dimension das Schlagwort vom neuen "Kalten Krieg" rechtfertigt. In der ersten Septemberhälfte landeten beispielsweise zwei russische Überschallbomber vom Typ Tupolew 160 auf einer Militärbasis in Venezuela, dessen linksnationaler Präsident Hugo Chávez als einer der erbittertsten Feinde der USA gilt. Bei dem Süd­amerika-Einsatz der beiden Tupolews (jede dieser Maschinen kann mit zwölf atomar bestückten Marschflugkörpern oder 40 Tonnen Bomben aufmunitioniert werden) handelte es sich um die erste Landung russischer Überschallbomber im Ausland, seitdem die strategische Luftwaffe des Kreml im letzten Jahr ihre 1992 aus Kostengründen eingestellten Langstrecken-Patrouillenflüge über neutralen Gewässern wieder aufgenommen hat.

Außerdem lud Chávez die russische Marine für Mitte November zu einem gemeinsamen Manöver ein. Das geplante Eintreffen von vier Kriegsschiffen der russischen Pazifikflotte vor Caracas veranlaßte einen Sprecher des US-Außenministeriums zu einer betont gelassenen Reaktion einschließlich eines bissigen Kommentars, der dann doch die Gereiztheit Washingtons ob der ständigen Nadelstiche aus dem Kreml offenbart: Wenn sich die Manöverpläne als wahr herausstellten, so der Sprecher, "dann haben die Russen also doch einige Schiffe gefunden, die so weit fahren können".

Zum Verdruß der US-Regierung räumte Präsident Medwedjew seinem venezolanischen Amtsbruder Chávez bei dessen jüngstem Rußland-Besuch am 26. September Kredite in Höhe von einer Milliarde US-Dollar für Waffenkäufe ein. Schon jetzt ist Rußland der mit Abstand wichtigste Rüstungslieferant des südamerikanischen Landes. Des weiteren wollen Rußland und Venezuela das weltweit größte Ölkonsortium gründen und gemeinsam neue Lagerstätten in der Karibik erschließen. Die Zusammenarbeit im Öl- und Rüstungssektor "garantiert die Souveränität Venezuelas, die derzeit von den USA bedroht wird", bedankte sich Chávez im russischen Orenburg.

Auch in Mittelasien spitzt sich die Konfrontation zu

Auch in Mittelasien spitzt sich die Konfrontation zu. Die Zeiten der schleichenden, scheinbar unabänderlichen Intensivierung des US-amerikanischen Einflusses in dieser Weltregion sind vorbei. Wie der Generalsekretär der GUS-Vertragsorganisation für kollektive Sicherheit, Nikolaj Bordjuscha, am 12. September bekanntgab, wollen die beteiligten Länder einen schlagkräftigen gemeinsamen Heeresverband für Zentralasien aufstellen. Zu dem Verband sollen Einheiten aus Rußland, Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisien gehören.

In Aserbaidschan, dem östlichen Nachbarn Georgiens, hatte die Wucht des russischen Vorgehens im "Olympiakrieg" sofortige Wirkung gezeigt. Noch während der Konflikt tobte, tat sich die bis dato mehr nach Amerika blickende Führung in Baku mit dem russischen Öltransportunternehmen Transneft zusammen, um hinsichtlich der eigenen Ölausfuhren über eine längerfristige Umgehung Georgiens zu beraten. Auch die jüngsten Verhandlungen zwischen Aserbaidschan und Armenien um Berg-Karabach, die am 2. November in Moskau dank russischer Vermittlung und russischen Drucks einen ersten bescheidenen diplomatischen Erfolg zeitigten, sind ein Indiz für den wachsenden Einfluß des Kreml.

Das neue Rußland Putins und Medwedjews ist nach jahrelanger außenpolitischer Defensive wieder in die Offensive übergegangen. Wie schon die völlig überzogene Reaktion in Georgien zeigte, neigt die russische Außenpolitik dabei in einer Art Kompensation der demütigenden Erfahrungen der Jelzin-Ära zur Selbstüberschätzung und zum "Säbelrasseln" - auch auf europäischem Boden.

Daß die tschechischen Geheimdienste in den letzten Monaten drastisch verstärkte russische Geheimdienstaktivitäten im Zusammenhang mit dem geplanten Bau eines US-Radars in Westböhmen (Stichwort "Raketenschild") gemeldet haben, gehört zu den harmloseren Begleitumständen der Moskauer Politik. Viel besorgniserregender ist die Verlautbarung des stellvertretenden russischen Ministerpräsidenten Iwanow von Anfang Juli, daß eine Umleitung sämtlicher Transitströme von baltischen auf russische Häfen bis zum Jahr 2015 geplant sei. Die kleinen ostmitteleuropäischen Nationen, allen voran die baltischen Republiken und Polen, werden von der nackten Angst vor einer schrittweisen russischen Westexpansion getrieben. Das desolate Ergebnis der weißrussischen Opposition bei den Parlamentswahlen Ende September und der sich anbahnende endgültige Zerfall des "orangenen" Lagers in der Ukraine lassen die eigenen Ostgrenzen immer unsicherer erscheinen. Da man sich von der EU im Ernstfall wenig Hilfe erwartet, setzen die auf die Erfahrung jahrzehntelanger sowjetrussischer Herrschaft zurückblickenden Regierungen in Warschau, Wilna, Riga und Reval auf die Nato und vor allem auf die USA. Wenn etwa der amerikanisch-tschechische Radarvertrag vom Juli auf demselben Schreibtisch unterzeichnet wurde wie der sowjetische Vertrag zur Besatzung der Tschechoslowakei nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, dann kommt die damit verbundene Botschaft in der ostmitteleuropäischen Öffentlichkeit an, während man im Westen des Kontinents - abgesehen von Großbritannien - weiterhin kein Verständnis für derlei Signale hat, sondern unbeirrt den diplomatischen Ausgleich sucht.

Die EU hat ganz allgemein Probleme, sich angesichts der ständiger Veränderung unterworfenen weltpolitischen Koordinaten noch zurechtzufinden. Ein Teil der Politiker hält sich trotz der längst begonnenen multipolaren Ära starr an die bisherige Ausrichtung an der US-Außenpolitik. Andere versuchen sich mit einem "Appeasement" gegenüber den russischen Ambitionen. Letzteres zeigt sich darin, daß Themen wie der immer wieder auf Eis gelegte Grenzvertrag zwischen der Republik Estland und Rußland auch auf dem jüngsten EU-Rußland-Gipfel nicht zur Sprache gebracht wurden, obwohl es sich um eine EU-Außengrenze handelt. Jeder größere Mitgliedsstaat verfolgt in der Außenpolitik letztlich eigene Ziele, egal, ob es sich um Frankreich, Großbritannien, Deutschland oder Italien handelt.

Diese Haltung ist, bei allem Verständnis für historisch-kulturelle Sonderinteressen, nicht mehr zeitgemäß, zumal die globalen Folgen der gegenwärtigen Finanzkrise der total überschuldeten Supermacht USA auch mit einem Präsidenten Obama noch gar nicht absehbar sind. Die portugiesische Zeitung Diário Económico sprach nicht von ungefähr von einem finanzpolitischen 11. September und orakelte: "Die Tatsache, daß Onkel Sam nicht weiterhin Blankoschecks ausstellen wird, könnte zu tieferen strukturellen Änderungen in den weltweiten Machtverhältnissen führen als einst der 11. September 2001."

Doch auch Rußland ist im großen Ringen um die Macht angeschlagen. Der vermeintliche Sieg im Kaukasus hat sich zumindest teilweise in eine wirtschaftliche wie propagandistische Niederlage verwandelt. Die Moskauer Börse verzeichnet eine anhaltende internationale Vertrauenskrise gegenüber Aktienanlagen in Rußland. Erhebliche Kurseinbrüche und eine Kapitalflucht ausländischer Anleger sind die Folge. Pessimistische Moskauer Ökonomen sehen nach der US-Finanzkrise das derzeit mit über sechs Prozent hohe russische Wirtschaftswachstum bis 2010 auf Null zurückgehen. Würde dieses Szenarium Wirklichkeit, geriete das buchstäblich wichtigste Kapital russischer Großmachtambitionen in Gefahr: die dank der Milliardeneinnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft überquellenden Staatskassen.

Wie sehr das Image des "russischen Bären" zumindest in Europa beschädigt ist, zeigt die Tatsache, daß seit August im traditionell neutralen Nachbarland Finnland über einen Nato-Beitritt diskutiert wird. Hinzu kommen diplomatische Rückschläge. Bislang haben außer Rußland selbst lediglich Nicaragua und Venezuela die beiden von Georgien abgespaltenen autonomen Gebiete als eigene Staaten anerkannt. Unter den Mitgliedern der sogenannten "Schanghai-Gruppe" (also die Volksrepublik China, die mittelasiatischen Republiken sowie mit Beobachterstatus Indien, der Iran, Pakistan und die Mongolei) bekam Moskau am 28. August kollektive Ablehnung zu hören, und nicht einmal Weißrußland konnte sich bislang - trotz eines Zwei-Milliarden-Kredits und des Versprechens niedriger Gaspreise - zu einer solchen Schützenhilfe durchringen.

Man darf gespannt sein, wo und in welchem Ausmaß der neue US-Präsident ein "Rollback" des gewachsenen russischen Einflusses versuchen wird und ob die Europäische Union im globalen Machtkampf ihre eigenen Interessen etwa in puncto Energiesicherheit zu vertreten versteht. Im Zuge der Georgien-Krise gab es dazu immerhin ermutigende Ansätze.

 

Stichwort: Russische Kurzstreckenraketen in Königsberg

Die russische Ankündigung, in der Ostsee-Exklave Kaliningrad (Königsberg) je nach Bedarf Kurzstreckenraketen (Typ Iskander) aufzustellen, sorgt nicht nur in den baltischen Staaten für Unverständnis. Lettlands Präsident Valdis Zatlers sieht "das Niveau des Vertrauens in der Ostseeregion" sinken. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) spricht von einem "falschen Signal zum falschen Zeitpunkt", und Österreichs EU-Außenministerin Benita Ferrero-Waldner erklärt, die Stationierung werde sicherlich "nicht zu einer Erhöhung der Sicherheit in Europa" beitragen.

Foto: Rußlands Premier Putin und Venezuelas Präsident Chávez (25. September 2008 in Novo-Ogariovo): Milliardenhilfe für Waffenkäufe

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