© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/08 14. November 2008

Meldungen

Lissabon: Die Geburt des EU-Leviathan

WIESBADEN. Über die wichtigste Entscheidung in der deutschen Geschichte seit dem Mauerfall findet eine Diskussion nicht statt. Der am 13. Dezember 2007 in Lissabon geschlossene, sich freilich nicht mehr so nennende Vertrag über die europäische Verfassung hat inzwischen die Parlamente von 18 Mitgliedstaaten passiert und scheint auch durch das Nein in der irischen Volksabstimmung nicht aufzuhalten zu sein. Der Bundestag erteilte seine Zustimmung in gewohnt europafreundlicher Eilabstimmung. Vor der Ratifikation steht jedoch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerden Peter Gauweilers (CSU), der Fraktion der Linken und des Staatsrechtlers Karl Albrecht Schachtschneider (Tübingen) aus. Schachtschneider, der nimmermüde Warner vor Lissabon, faßt seine Argumente gegen diese "existentielle Entstaatlichung", den "Verfassungsoktroi der politischen Klasse" und den künftigen europäischen "Bundesstaat ohne Volk" in einer sozialwissenschaftlichen Zeitschrift mit dem beziehungsreichen Titel Leviathan (Heft 3/08) in prägnanter Form zusammen. Aber auch an dieser fast populären Aufbereitung ist die Schwierigkeit der Materie nicht zu verkennen, die breiteres Desinteresse für eine so elementare Weichenstellung begünstigt und einen "Oktroi" erleichtert.

 

Sowjetgefangene: Wohl doch eher "Kameraden"

MÜNCHEN. Seit es Christian Streits Dissertation "Keine Kameraden" (1979) auf Anhieb zur Spiegel-Geschichte brachte, ist das Schicksal der sowjetrussischen Gefangenen in Wehrmachtsgewahrsam ein zeithistorischer Dauerbrenner, scheint bald jedes für die Rotarmisten angelegte Kriegsgefangenenlager gleich durch mehrere Doktorarbeiten "aufgearbeitet" worden zu sein. Trotzdem sind noch geschichtspolitisch sensationelle Resultate zu erzielen, wie eine Studie von Reinhard Otto, Rolf Keller und Jens Nagel über die "Zahlen und Dimensionen" des Komplexes belegt (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 4/08). Die Autoren weisen nämlich nach, daß sich für den Zuständigkeitsbereich des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) erstaunlich exakte Zahlen ermitteln lassen, weil 2,8 Millionen sowjetische Gefangene "individuell registriert" worden seien. Daraus leiten die drei Zeithistoriker ab, daß die Einhaltung üblicher militärisch-administrativer Verfahren der Gefangenenregistrierung der aus ideologischen Gründen von Christian Gerlach (Hamburg) und anderen Gesinnungstätern gestreuten Fama von der "gezielten Hungerpolitik" des OKW widerspreche. Es sei schlicht unlogisch, Hunderttausende vorsätzlich verhungern zu lassen, "zugleich aber systematisch Unterlagen anzulegen, die dies für jeden Einzelfall dokumentieren" würden.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen