© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/08 21. November 2008

Ein Jude, der Deutschland liebte: Das Tagebuch des Willy Cohn
Die Qual eines deutschen Patrioten und gläubigen Juden
Christian Dorn

Was uns als vermeintliche Geschichte im kollektiven Gedächtnis bleibt, ist zuweilen ein Trugbild. So verhält es sich auch bei einem Großteil des deutschen Feuilletons. Beispielhaft dafür, wie Geschichte sich als Farce wiederholt, ist die selektive Westwahrnehmung jener Alt-68er, die über Jahrzehnte hinweg die Schriftstellerin Christa Wolf gern als das "moralische Gewissen der DDR" apostrophierten. Als dann die Verehrung kurz aussetzte, weil ihre einstige Spitzeltätigkeit für das MfS bekannt wurde, verglich Wolf ihre Einsamkeit allen Ernstes mit der Lage der aus dem Dritten Reich ausgebürgerten Autoren. Ihre "Kunst sensibel camouflierter Verlogenheit", die sich in einem "Mix aus apolitischer, das heißt die Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur (...) einebnender Zivilisationskritik" ausdrückte - so die Umschreibung des Autors Marko Martin -, zeigte sich nicht zuletzt in ihrer Erzählung "Kein Ort. Nirgends".

Es ist nun eine Ironie der Geschichte, daß die 2006 publizierten Tagebücher des Historikers Willy Cohn den Titel "Kein Recht, nirgends" tragen. Ihre Veröffentlichung wurde als zeitgeschichtliche Sensation und - so Walter Laqueur - noch aufschlußreicher als Victor Klemperers berühmte Notizen betrachtet. Über 1.200 Seiten schildert Cohn seinen inneren Kampf: die Qual eines deutschen Patrioten, der sein Vaterland liebte, und eines gläubigen Juden, der sich ein neues Leben nur in "Erez Israel" vorstellen konnte. Als er sich entschloß zu gehen, war es zu spät: Kurz nach seinem letzten Tagebucheintrag wurde Cohn im November 1941 mitsamt Frau und seinen zwei kleinen Töchtern von den Nationalsozialisten erschossen. Die Journalistin Petra Lidschreiber dokumentiert in ihrem Beitrag den Besuch der drei ältesten Kinder von Willy Cohn, die rechtzeitig emigrieren konnten und nun zurückkehren - für Erinnerungen und Fragen vor dem Familiengrab.

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