© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/08-01/09 19./26. Dezember 2008

"Irgendeine Tragödie"
Polen: Massengräber im westpreußischen Marienburg entdeckt
Christian Rudolf

Noch weiß niemand, wer die Toten sind, wer den Massenmord begangen hat, geschweige denn wie viele Menschen genau ihm zum Opfer fielen. Zum Zeitpunkt des Verbrechens gibt es bisher nur Spekulationen. Doch sieben Wochen nach der ersten Entdeckung eines Massengrabs in Marienburg (Malbork/ehemals Regierungsbezirk Westpreußen) ist offenbar geworden, daß die neuere Geschichte der Kleinstadt an der Nogat einen ganz gewaltigen weißen Fleck aufweist - so groß wie das Baufeld für ein geplantes Touristenhotel, einen Steinwurf von der mächtigen Marienburg entfernt.

Ende Oktober stießen Arbeiter nach Abriß eines Kinos an der Piastowska-Straße auf die sterblichen Überreste von Dutzenden von Menschen. Knochen und Schädel fand man eingegraben in einer etwa drei Meter tiefen Grube dicht bei dem eben abgetragenen Gebäude. Da Reste von Kleidungsstücken fehlten, war schnell klar: Die übereinanderliegenden Opfer waren vor ihrem Tod unbekleidet gewesen. Auch wiesen viele der Schädel Durchschüsse auf.

Zunächst schien es, als bliebe es bei den 67 Toten. Die Männer, Frauen und Kinder, deren letzte Lebensstunde sich nur düster ahnen läßt, wurden am 31. Oktober in einem einzigen Sarg auf dem kommunalen Friedhof nach katholischem Ritus beerdigt. Weil deren Identität völlig ungeklärt war, wurden am Grab keine religiösen Symbole angebracht. Doch nur zwei Wochen später spülte starker Regen mehr Knochen an die Oberfläche. Zunächst berichtete das Lokalblatt Dziennik Bałtycki von über 200 Toten, darunter Kleinkinder, weitere Grabungen förderten endlos Gebeine zutage. Vorigen Freitag schrieb die Gazeta Malborska, man habe "bis zu diesem Zeitpunkt die Überreste von über 700 Personen ausgegraben". Bürgermeister Andrzej Rychłowski äußerte nach dem ersten Fund, die Menschen könnten dort zusammengetrieben worden sein. "Hier ist es zu irgendeiner Tragödie gekommen." Er mutmaßte: "Wahrscheinlich war das Ende 1945."

"Das könnten die Überreste von Menschen deutscher oder sowjetischer Nationalität sein", meint der Denkmalpfleger vom Burgmuseum, Bernard Jesionowski. Er glaubt nicht, daß es sich um Sowjetsoldaten handelt: "Rotarmisten machten die Gräber ihrer Kumpanen kenntlich, also hätte man sie früher gefunden." Das Fehlen von Kleidung und Ausrüstungsgegenständen zeuge davon, daß es sich eher um Zivilbevölkerung handle. Laut Dziennik Bałtycki gibt es in den historischen Aufzeichnungen der Stadt keinerlei Hinweise auf frühere Gräber an dieser Stelle. Auf dem Grundstück an der Kleinen Geistlichkeit, wie die Straße bis zur Vertreibung der Deutschen hieß, will der Europäische Hypothekenfonds aus Warschau ein Vier-Sterne-Hotel errichten.

Damit wird wohl erst einmal Schluß sein. Die Bezirksstaatsanwaltschaft hat beim Institut für Nationales Gedenken (IPN) in Warschau angefragt, ob es dort Informationen zu Massenexekutionen in Marienburg gibt. Und die vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge finanzierte deutsch-polnische "Stiftung Erinnerung" will herausfinden, ob es sich bei der Opfern um Deutsche handelt. Sollte sich der Verdacht bestätigen, ist die Stiftung beauftragt, für eine würdige Begräbnisstätte zu sorgen.

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