© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/09 16. Januar 2009

"Unter den Muslimen brodelt es"
Der Krieg in Gaza treibt Millionen wütende Muslime auf die Straße. Auch in Europa eskaliert der Konflikt
Moritz Schwarz

Herr El-Zayat, der Gaza-Krieg treibt weltweit Millionen Muslime auf die Straße. Wie ist die Stimmung unter ihnen hier in Deutschland?

El-Zayat: Sie ist geprägt von grenzenlosem Entsetzen, tiefer Enttäuschung, Trauer und Ohnmacht. Seit Tagen sehen wir Bilder von toten, verwundeten oder verzweifelten Kindern, Frauen und Männern - viele Menschen in Deutschland, und zwar keineswegs nur Muslime, können nicht begreifen, wieso dem Morden kein Ende bereitet wird. Es ist furchtbar und bedrückend, daß viele Politiker zu einem Verbrechen solchen Ausmaßes schweigen. Wären auf israelischer Seite über 1.000 Opfer zu beklagen, hätte es einen Aufschrei gegeben, man hätte von Kriegsverbrechen gesprochen und die Verantwortlichen in Den Haag vor Gericht stellen lassen.

Am Wochenende hat Deutschland wieder zahlreiche muslimische Demonstrationen erlebt.

El-Zayat: In Berlin waren es fast 20.000, in Frankfurt 10.000, Tausende in Düsseldorf, Hamburg, Bremen, München, Stuttgart und Duisburg - insgesamt haben seit Beginn der Angriffe auf Gaza bereits weit mehr als hundert Demonstrationen in mehr als fünfzig deutschen Städten stattgefunden. Nicht nur unter den Muslimen in Deutschland brodelt es. Auch im europäischen Ausland und in vielen Ländern der Welt gehen Hunderttausende auf die Straße, um gegen dieses Unrecht zu demonstrieren. Der Patriarch von Jerusalem, der Papst und verschiedene Friedensnobelpreisträger wie Desmond Tutu oder Jimmy Carter haben die Bombenangriffe scharf verurteilt. Es ist ein furchtbares Gefühl der Ohnmacht, diese Todesmaschine, die keine Unterschiede macht, nicht anhalten zu können. Dies birgt auch die Gefahr der Radikalisierung innerhalb bestimmter Gruppen in der muslimischen Gemeinschaft.

Was meinen Sie mit "Radikalisierung"?

El-Zayat: Wieder mal müssen wir erleben, daß in bezug auf Israel mit zweierlei Maß gemessen wird. Denn die Proteste der westlichen Regierungen erscheinen doch nur halbherzig. Das führt dazu, daß viele die Dinge nicht mehr differenziert, sondern eindimensional sehen. Auch deshalb, weil viele westliche Medien den Kern dessen, um was es eigentlich geht, fast völlig außen vorlassen.

Nämlich?

El-Zayat: Nämlich daß es sich um eine Besatzung handelt. Laut der US-Initiative "Fairness and Accuracy in Reporting" findet dieser entscheidende Umstand lediglich in vier Prozent der Berichte Erwähnung. Man kann sich aber nicht "verteidigen", wenn man in ein fremdes Land einmarschiert ist.

Israel verteidigt sich gegen jahrelangen Beschuß mit Kassam-Raketen. Dazu ist es in das Gebiet vorgerückt, aus dem die Angriffe erfolgt sind. Der Hamas-Chef des Libanon protzt im Interview mit dieser Zeitung (siehe Seite 8) sogar damit, daß die Attacken fortgesetzt würden.

El-Zayat: Es ist offenkundig - auch israelische Meldungen bestätigen dies -, daß von israelischer Seite konsequent auf diese Eskalation hingearbeitet worden ist. Natürlich verurteilen wir es, wenn israelische Zivilisten getötet werden, aber man darf Ursache und Wirkung nicht vertauschen - und die Ursache ist die Besatzung.

Und Ursache für die Besatzung ist, daß Israel strategisch ums Überleben kämpfen muß.

El-Zayat: Rolf Verleger vom Zentralrat der Juden in Deutschland hat es auf den Punkt gebracht, wenn er sagt: "Es würde Israel unendlich guttun, wenn es aus seiner fantasierten Position, das ewige Opfer zu sein, herausgeführt und wie jeder andere Staat auch fest in das internationale Regelsystem eingebettet würde. Das heißt, daß die widerrechtliche Besetzung des Westjordanlands und die völkerrechtswidrige jahrelange Belagerung Gazas sanktioniert und boykottiert werden müssen." Genau deshalb ist es empörend, wenn die Bundeskanzlerin davon spricht, daß die Hamas allein für die Eskalation verantwortlich sei.

Wie wurde diese Erklärung Merkels unter den Muslimen in Deutschland aufgenommen?

El-Zayat: Deutschland genießt bei vielen Muslimen Sympathie. Diesen Bonus ist die Regierung Merkel - nach ihrem Schweigen zu den israelischen Angriffen auf den Libanon 2006 - abermals dabei zu verspielen.

Werden die Muslime in Deutschland die Deutschen also bald als Feinde wahrnehmen?

El-Zayat: Nein, soweit sind wir zum Glück noch nicht. Schon deshalb nicht, weil spürbar ist, daß die Position Merkels nicht die "der" Deutschen ist. Ich denke zum Beispiel an den gemeinsamen Brief der ehemaligen deutschen Botschafter im Nahen Osten, der ihre Haltung deutlich kritisiert. Darüberhinaus empfinden sich die allermeisten Muslime in Deutschland auch selbst als Deutsche.

Wäre aber die Haltung Merkels die Haltung aller Deutschen, dann hätten wir ein Terrorproblem mit hier lebenden Palästinensern?

El-Zayat: Nein, aber natürlich wäre die Situation dann sehr viel komplizierter. Was ich mir aber von unserer Bundeskanzlerin wünsche, ist, daß sie die Kritik ernst nimmt, und es uns gelingt, deutlich zu machen, daß "deutsche Staatsräson" vor allem umfassen muß, nie wieder Unrecht zu unterstützen, auch wenn es von Freunden verübt wird. Die deutsche Verantwortung für Israel umfaßt auch eine Verantwortung für Palästina.

Sie setzen also darauf, daß die muslimische Einwanderung zu einer Veränderung der deutschen Position im Nahost-Konflikt führt?

El-Zayat: Deutschland war lange ein Partner und Freund der arabischen und muslimischen Welt. Der Besuch Kaiser Wilhelm II. in Jerusalem 1898 ist noch heute unvergessen. Dieses besondere Verhältnis gilt es weiterzuentwickeln und zu pflegen.

Sie sprachen anfangs von einer "Radikalisierung". Wie weit geht diese?

El-Zayat: Großes Unrecht gepaart mit Ohnmacht kann zum einen Rückzug führen und Isolation erzeugen oder aber gegebenenfalls auch Wut und Zorn. Wie ich schon zu erklären versucht habe, die Bereitschaft zu differenzieren droht verlorenzugehen.

Wie bedrohlich kann diese Radikalisierung der Muslime in Deutschland werden?

El-Zayat: Ich kann mir nicht vorstellen, daß es zu Straßenkämpfen oder gar zu organisierter Gewalt hierzulande kommt. Wie gesagt, am Wochenende haben Zigtausende von Muslimen in Deutschland demonstriert,  und teilweise haben die Demonstrationsrouten sogar an kritischen Standorten wie zum Beispiel in Düsseldorf an der Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust vorbeigeführt. Dennoch ist es absolut friedlich geblieben.

In Oslo kam es am Wochenende bei muslimischen Demonstrationen laut AFP zu den "schwersten Ausschreitungen seit zwanzig Jahren". Zuvor war es in Brüssel, Madrid, London und Paris zu Straßenschlachten gekommen. Die französische Innenministerin warnt gar, die Pariser Vorstädte könnten unter dem Eindruck der Gaza-Krise explodieren.

El-Zayat: Wie gesagt, hier gab es keine Gewalt. Nicht zuletzt, weil wir als islamische Religionsgemeinschaften nicht hetzen und alles tun, um die Lage zu beruhigen. Ich teile übrigens die Einschätzung des Innenministers Schäubles, daß es in Deutschland kein erhöhtes Gefahrenpotential gibt. 

Es gibt 3,5 Millionen Muslime in Deutschland. Gibt es die Hamas inzwischen auch bei uns?

El-Zayat: Nein, aber wenn sie in Gaza mehr als die Hälfte der Stimmen bekommen hat, wird es eine ähnliche Verteilung auch unter den Palästinensern im Ausland geben.

Die Innenbehörden sprechen von etwa 300 Hamas-Leuten in Deutschland.

El-Zayat: Davon ist mir nichts bekannt. Die Hamas ist in einer fairen Wahl, von unzähligen internationalen Beobachtern begleitet, demokratisch in alleinige Regierungsverantwortung gewählt worden. Dieser Umstand muß zur Kenntnis genommen werden.

Ihnen wurde vorgeworfen, Mitglied der Muslimbruderschaft zu sein, die als Mutterorganisation der Hamas gilt.

El-Zayat: Ich habe wiederholt erklärt: Diese Behauptung ist falsch. Allerdings muß man anerkennen, daß die Muslimbruderschaft eine der wichtigsten islamischen Reformbewegungen des letzten Jahrhunderts gewesen ist und selbst einem kontinuierlichen Wandel unterliegt. Wer auf einen lauteren Diskurs mit der Muslimbruderschaft abzielt, muß dies berücksichtigen.

Der israelische Sicherheitsexperte Shalom Harari nennt die Muslimbruderschaft einen Teil der islamistischen Terrorszene.

El-Zayat: Dies ist eine völlige Verdrehung von Tatsachen. Ich kenne keinen einzigen Terroranschlag, der der Muslimbruderschaft zugeschrieben wird.

Hamas und Muslimbruderschaft haben sich zu Selbstmordattentaten bekannt.

El-Zayat: Das stimmt so nicht. Jedenfalls habe ich eine grundsätzlich andere Meinung dazu: Ich lehne solche Attentate ab und halte sie mit der islamischen Lehre für nicht vereinbar.

 

Ibrahim El-Zayat: ist Vorsitzender der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland (IGD). Geboren wurde der Diplom-Volkswirt 1968 in Marburg als Sohn eines Ägypters und einer Ostpreußin (JF 51/05). El-Zayat wird vorgeworfen, Mitglied der islamistischen Muslimbruderschaft zu sein, die als Mutterorganisation der Hamas gilt. Die Welt  berichtete 2007, daß der Führer der Muslimbruderschaft, Mohammed Mahdi Akef, El-Zayat in einem Interview als "Chef der Muslimbrüder in Deutschland" bezeichnet habe. Außerdem soll er auf der Netzseite  der Muslimbruderschaft als Mitglied geführt worden sein. El-Zayat erwirkte erfolgreich zwei Gegendarstellungen.

 

Islamische Gemeinschaft in Deutschland: Die IGD (www.igd-online.de), gegründet 1958, gilt als eine der führenden islamischen Organisationen in Deutschland. Die bayerischen Innenbehörden bezeichnen sie als "deutsche Zentrale des ägyptischen Zweigs der Muslimbruderschaft". Die IGD widerspricht dem.

 

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