© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/09 23. Januar 2009

Ein verdienter deutscher Patriot
Zum Tode von Wolfgang Seiffert: Die Wiedervereinigung und das Verhältnis zwischen Deutschen und Russen bestimmten sein Denken
Günther Deschner

Die Nachricht vom Tod Wolfgang Seifferts hat in mir sofort das Bild eines strahlenden Frühsommertags des Jahres 1989 im Park von Schloß Weikersheim wachgerufen, das sich mir unauslöschlich eingeprägt hat: In der Pause einer deutschlandpolitischen Tagung spazierten Tagungsteilnehmer die weißen Kieswege entlang und diskutierten. Etwas abseits, so als wollten sie nicht gestört werden, waren drei Professoren in ein vertrauliches Gespräch vertieft - der von den in Bonn regierenden Kreisen wegen seiner nationalen Haltung schräg angesehene Historiker Hellmut Diwald, der Völkerrechtler Wolfgang Seiffert und der Gorbatschow-Berater Wjatscheslaw Daschitschew.

Von den beiden ersten wußte ich, worum es bei diesem Privatissime ging: In jenen Monaten, in denen sich die politische Diskussion immer intensiver um das Ende des Kalten Krieges, Reformen im Ostblock und ein "Aufeinander-Zugehen" drehte, hatte sich eine Gruppe von Industriellen und Wissenschaftlern mit Wissen Alfred Herrhausens (damals Chef der Deutschen Bank) in einem Memorandum an KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow gewandt, in dem sie Grundsätze für die Wiedervereinigung Deutschlands formuliert hatten, die auch die Zustimmung Moskaus finden konnten und die die außerordentlichen Chancen für beide Länder herausarbeiteten. Die drei Professoren waren als Berater und ein wenig auch als "Postillons" in das Projekt involviert.

Wenn diese Initiative wegen des Zögerns von Gorbatschow und der ablehnenden Haltung der damaligen Bundesregierung auch nur eine "Episode" blieb, wie es Daschitschew nannte, steht sie doch für die zentralen Themen, die Seifferts Denken und Handeln bestimmten - die deutsche Einheit und das Verhältnis zwischen Deutschen und Russen, den beiden größten Völkern des Kontinents und ihren Staaten. Wie kaum ein Zweiter war Seiffert durch Lebenslauf, politische Haltung und fachliches Wissen für diese Aufgabe prädestiniert. In seinem Leben spiegelt sich wie in wenig anderen Biographien das (wie es Herbert Ammon nennt) "Hin- und Hergeworfensein eines in nationalen Kategorien denkenden Intellektuellen zwischen Ost und West".

Geboren am 18. Juni 1926 im niederschlesischen Breslau, das damals unter den Großstädten Deutschlands den sechsten Rang einnahm, hatte er den wechselvollen Verlauf der deutschen Geschichte hautnah erlebt. Die ersten politischen Eindrücke waren der Untergang Weimars und die Machtergreifung Hitlers. Die dem Dritten Reich kritisch gegenüberstehenden Eltern bemühten sich, ihn durch eine katholische Schulerziehung inklusive Ministrantenausbildung gegen den Zeitgeist zu imprägnieren, doch vom Gemeinschaftserlebnis beim Jungvolk der HJ blieb er nicht unbeeindruckt. 1944 wurde er Kriegsfreiwilliger bei der Marine. Er sollte Nachrichtenoffizier werden, doch die Kriegslage verschlug ihn zur kämpfenden Truppe. Im April 1945 gehörte er zu den letzten zehn Überlebenden einer Abiturientenkompanie und geriet in sowjetische Gefangenschaft.

Sie verlief für ihn glimpflicher als üblich - und sie stellte sein ganzes weiteres Leben in das Spannungsfeld zwischen Deutschen und Russen. Als Kriegsgefangener leistete er drei Jahre Zwangsarbeit in Fabriken, lernte "den russischen Menschen" kennen und respektieren - und er lernte Russisch. Als "Kursant" einer Antifaschule begegnete er Vertretern des Nationalkomitees Freies Deutschland und zahlreichen Kommunisten, die er später als Funktionäre in der DDR wiedertraf. Schnell wurde ihm klar, daß der Kurs der Auswahl politischer Kader diente, durch deren Einsatz Moskau den politischen Wiederaufbau Gesamt-Deutschlands in seinem Sinne beeinflussen wollte. Die Jubelfeiern im stalinistisch-byzantinischen Stil, an denen Seiffert am Gründungstag der DDR im Oktober 1949 noch als Kriegsgefangener teilnehmen mußte, galten ihm als "ein Vorzeichen" für seinen "späteren Streit mit der DDR".

"Nach Hause" konnte er Ende 1949 nicht mehr, denn Breslau war inzwischen polnisch. Er kam nach Westdeutschland und wurde bald Funktionär der kommunistisch gesteuerten Freien Deutschen Jugend (FDJ). Als Chefredakteur ihrer Zeitung Das Junge Deutschland arbeitete er - worauf er stets Wert legte - für die "gesamtdeutsch denkende" und in der jungen Bundesrepublik offiziell 30.000 Mitglieder zählende "FDJ in Westdeutschland". Auch nach deren umstrittenen Verbot 1951 agitierte er weiter "für deutsche Einheit und Freiheit" und gegen die "spalterische Westintegration der Regierung Adenauer". Das brachte ihm schließlich eine Gefängnisstrafe von vier Jahren ein. Aus dem Strafvollzug im niederrheinischen Anrath floh er - auf einem Binnenschiff in einem Weinfaß versteckt - über verschlungene Wege in die DDR. An der Berliner Humboldt-Universität studierte er Jura und machte, gefeiert als "Patriot und Friedenskämpfer", rasch Karriere als Wirtschafts- und Völkerrechtsexperte.

Für ihn war aber von Anfang an klar, daß der "Arbeiter- und Bauernstaat" ein Interim bleiben sollte. Nach Erich Honeckers Abkehr vom Ziel der Wiedervereinigung und Seifferts Kritik daran als "Staatsstreich" erreichte er 1978 die Genehmigung zur Ausreise samt Familie in die Bundesrepublik - was dem Spiegel eine dreiwöchige Artikelserie wert war. Er hielt zunächst als Gastprofessor Vorlesungen in Kiel. Kaum überrascht, stellte er in der Bundesrepublik fest, "wie anational in diesem Land - bis in die höchsten Spitzen der politischen Elite hinein - gedacht wurde". Als Patriot und als Völkerrechtsprofessor widersetzte er sich der im Westen grassierenden Tendenz, die deutsche Teilung als etwas Gegebenes und gar als "friedenssicherndes Element" zu akzeptieren. Unbeirrt hielt er am Ziel der Wiedervereinigung fest und wurde zu einem ihrer profiliertesten Vordenker - "in einer Zeit", so steht es in seinen Lebenserinnerungen (Ares 2006), "in der sämtliche Politiker von Kohl bis Schröder, von Lambsdorff bis Lafontaine wenn nicht überhaupt Gegner der deutschen Wiedervereinigung, so doch nicht ihre Vorkämpfer waren".

Es erregte Aufsehen, daß er sich 1982 mit einem Beitrag über "Die SED und die deutsche Frage" mit Wolfgang Venohr, Hellmut Diwald, Peter Brandt und Harald Rüddenklau an dem publizistischen Eisbrecher "Die deutsche Einheit kommt bestimmt!" beteiligte. Damals habe ich als Chef des Lübbe-Verlags Wolfgang Seiffert kennengelernt, und seither wußte ich seine präzise Analyse, sein unbestechliches Erkennen, seinen Witz und am allermeisten sein engagiertes Eintreten für Deutschlands Einheit zu schätzen. An der Diskussion über die Lösung der deutschen Frage in der Überwindung der Blockkonfrontation war er in all den entscheidenden Jahren eine Stimme von Gewicht: 1985 legte er die grundlegende Untersuchung über die östliche Wirtschaftsordnung vor: "Kann der Ostblock überleben?" (Lübbe)

1986 umriß er in "Das ganze Deutschland" (Piper) die Perspektiven der Wiedervereinigung, 1989 folgte in "Die Deutschen und Gorbatschow" (Lübbe) die Bewertung der Chancen für einen Interessenausgleich zwischen Deutschland und Rußland und mit "Abschied von der Weltrevolution" eine Untersuchung über das Ende des Stalinismus und die Zukunft Europas (Straube). Auch nach der Wiedervereinigung ließ ihn das Thema nicht los: 1992 etwa stellte er in "Selbstbestimmungsrecht und deutsche Vereinigung" (Nomos) die völkerrechtliche Fundierung des Anspruchs auf nationalstaatliche Einheit dar.

Er hat - wie er mit seinem spöttischen Lächeln zu sagen pflegte - "von Adenauer über Honecker und Kohl bis Putin" handelnde Politiker in Ost und West kennengelernt und einige von ihnen auch beraten. In Moskau lernte er den späteren Präsidenten Wladimir Putin kennen, dessen Aufstieg und anhaltende Bedeutung er in seinem im Jahr 2000 veröffentlichten Buch "Putin - Wiedergeburt einer Weltmacht?" (Langen Müller) präzise vorhersagte.

Neben seinen Büchern und renommierten juristischen Untersuchungen hat er - vom Spiegel über die Literaturnaja Gazeta bis zur JUNGEN FREIHEIT - Hunderte von Artikeln veröffentlicht: realistisch, nüchtern und ohne politische Berührungsängste. Bis 1994 arbeitete Seiffert - der sich in den letzten Jahren auch kritisch mit der EU auseinandersetzte - weiter am Institut für Osteuropäisches Recht der Universität Kiel. Er lehrte zudem in Moskau an der Akademie der Wissenschaften russisches und europäisches Recht. Bei der universitären Festveranstaltung anläßlich seines achtzigsten Geburtstages waren neben Fachkollegen die Professoren Tilman Mayer (Bonn) und Wjatscheslaw Daschitschew sowie der Spiegel-Rußland­experte Frithjof Meyer dabei.

Trotz aller Zwänge der Geschichte hat Wolfgang Seiffert ein selbstbestimmtes Leben gelebt. Er hat sich als Wissenschaftler und Publizist einem hohen Ziel zur Verfügung gestellt - der Überwindung der deutschen Teilung. Er hat sich um Deutschland sehr verdient gemacht. Am 15. Januar verstarb er in Hamburg. In den ersten Februartagen soll er dort auch beerdigt werden.

Wolfgang Seiffert: Selbstbestimmt. Ein Leben im Spannungsfeld von geteiltem Deutschland und russischer Politik. Ares Verlag, Graz 2006, gebunden, 216 Seiten, 19,90 Euro

Fotos: Wolfgang Seiffert 2006 in Berlin: Realistisch, nüchtern und immer ohne politische Berührungsängste; Begrüßung nach der Flucht aus Westdeutschland in der DDR: Kinderferienlager und Jugendherbergen wurden nach ihm benannt

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