© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/09 23. Januar 2009

Das rätselhafte Massengrab an der Nogat
Die Toten an der Marienburg offenbaren die Versäumnisse der zeithistorischen Forschung bei der Aufarbeitung des ostdeutschen Endes
Wolfgang Müller

Zu Füßen der westpreußischen Marienburg sind seit Oktober 2008 fast zweitausend Skelette gefunden worden (JF 4/09). Bislang, so läßt die polnische Staatsanwaltschaft verlauten, seien die Identität dieser Toten wie die Umstände ihres Todes noch völlig ungeklärt.

Nur daß es wohl Deutsche beiderlei Geschlechts und unterschiedlichen Alters sind, die im Winter 1945 bei der Besetzung des Reichsgaus Danzig-Westpreußens durch die Rote Armee zurückgeblieben waren, daß als Täter allein die Sowjetsoldateska in Betracht kommt, scheint außer Zweifel zu stehen. Diese Hypothese kursiert denn auch in polnischen Medien und wird hierzulande mit der bei nicht-deutschen "Tätern" üblichen großen Zurückhaltung von den Zeitungen verbreitet. Allerdings weist nur ein kleiner Teil der Schädel Einschußlöcher zwischen den Augen auf, die auf eine gewaltsame sowjetische "Fremdeinwirkung" hindeuten. Alle Opfer müssen zudem nackt verscharrt worden sein, da sich keinerlei Kleidungsspuren fanden. 

Diese Form der "Beisetzung" war in den unmittelbar nach der Eroberung Ostdeutschlands eingerichteten, im Sommer 1945 von Polen übernommenen Konzentrationslagern der sowjetischen Militärverwaltung üblich. Hunger- und Seuchentote wurden gewöhnlich entkleidet und in einiger Entfernung vom Lager bestattet. Allein im großen Lager Preußisch Eylau, heute in der "Kalingrader Oblast" gelegen, starben bis Ende 1947 etwa 9.000 von 16.000 der überwiegend aus Ost- und Westpreußen stammenden Insassen. Mit Ausnahme des polnischen, in Schlesien gelegenen KZ Lamsdorf ist dieses düstere Kapitel deutscher Kriegs- und Nachkriegsgeschichte aber bis heute weitgehend unerforscht.

Wenn angesichts der Toten von Marienburg polnische Historiker nun spekulieren, die Opfer stammten aus verschiedenen "Teilen der Stadt" und seien in ihrem Massengrab an der Nogat nach Beendigung der Kampfhandlungen "gesammelt" worden, so spiegelt das diese desaströse Forschungslage recht eindrücklich wider. Man geht dabei nämlich von der Annahme aus, daß noch größere Teile der Marienburger Bevölkerung der Roten Armee, die die Stadt am 24. Januar 1945 besetzte, in die Hände fielen. Das bis heute maßgebliche "Neue Marienburger Heimatbuch", 1967 von Rainer Zacharias zusammengestellt, weiß hingegen zu berichten, daß von den 11.000 Einwohnern Marienburgs fast alle, ausgenommen wenige in den östlichen Außenbezirken überraschte Einwohner, rechtzeitig über die Nogat nach Westen fliehen konnten.

Nur etwa 2.500 Verteidiger der zur "Festung" erklärten Burganlage, des historischen, im 14. Jahrhundert errichteten Hauptsitzes des Deutschen Ordens, hielten sich noch am Ort auf. Diese bunt zusammengewürfelte, schlecht bewaffnete Truppe, unter ihnen halbe Kinder von der Unteroffiziersschule in Mewe und der Maatenschule in Gotenhafen oder die alten Männer des "Volkssturms", aber auch kampferprobte Einheiten, geführt von unerschrockenen Offizieren, hielt bis zum 9. März 1945 dem sowjetischen Ansturm stand und konnte sich unter relativ geringen Verlusten in der Nacht zum 10. März vom Feind absetzen. Dank der Deutschen Wochenschau, die das symbolische "Kapitel" der gewaltigsten Burganlage der Welt in filmischer Aufbereitung des Abwehrkampfes geschickt verwertete, hat sich diese abermalige Bewährung als "Bollwerk des Abendlandes" gegen die "slawische Barbarei" noch lange im kollektiven Nachkriegsgedächtnis bewahren lassen.

Der Widerstand der Burgbesatzung, der Gustav Fieguth, als Oberleutnant in der Festungskommandantur eingesetzt, 1985 ein literarisches Denkmal setzte ("Marienburg 1945. Kampf um Stadt und Burg"), wird wie der Kampf vieler anderer "Festungen" in Ostdeutschland im nachhinein gern als "sinnlos" diffamiert. Tatsächlich verhinderte er aber den raschen Einfall der Sowjetarmee in den Großraum Danzig und trug so erheblich dazu bei, daß von dort bis Ende März noch Hunderttausende von Flüchtlingen über die Ostsee nach Westen entkamen.

Rätselhaft ist angesichts dieser Fakten, wie sich die Zahl von "3.800 früheren Bürgern Marienburgs" zusammensetzt, die der für die Totenbergung verantwortliche polnische Archäologe Zbigniew Sawicki nennt. Er habe diese Zahl vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) erhalten. Das "Neue Marienburger Heimatbuch" nennt indes 4.119 Tote und 3.020 Vermißte aus dem gesamten, 1939 etwa 63.000 ausschließlich deutsche Einwohner zählenden Landkreis Marienburg. Für dessen Kreisstadt Marienburg werden 2.658 Tote und 1.840 Vermißte registriert. In diesen Zahlen sind aus Marienburg stammende Soldaten der Wehrmacht jedoch ebenso einbezogen wie die Opfer von Flucht und Vertreibung. Zwischen der DRK-Statistik (3.800) und den Angaben der Heimatforscher allein für die Stadt Marienburg (1.840) klafft also eine recht markante Lücke.

Allein diese Differenz spricht schon gegen die Behauptung, es handle sich bei den jetzt entdeckten sterblichen Überreste um Teile der "deutschen Bevölkerung Marienburgs". Wahrscheinlicher dürfte sein, daß sich in oder nahe der Stadt ein Lager befand, vielleicht von den Sowjets im März 1945 eingerichtet und im Juli 1945, als die Rote Armee das Gebiet verließ, den Polen überantwortet. In Frage käme hier ein "Arbeitslager" am Hartwigplatz, südöstlich der Altstadt, 200 Meter von der Nogat entfernt. Daß es bereits Mitte März 1945 bestand und "Männer aus dem Großen Werder, dem Kreis Stuhm und andere Flüchtlinge aus Ostpreußen" dort gefangen waren, davon berichtet der katholische Pfarrer Konrad Will, der bis 1957 in Marienburg amtierte und der 1945 für 400 verbliebene Marienburger seelsorgerisch tätig war. Will nennt jedoch kein anderes "Massengrab" als den Soldatenfriedhof am Großen Remter der Burg, wo die Gefallenen der Burgbesatzung beerdigt waren. Sollte diesem Zeitzeugen der Tod von 2.000 Menschen entgangen sein?

Auf der Netzpräsenz des Heimatkreises Marienburg (www.heimatkreis-     marienburg.de) wird seit dem 10. Januar der Augenzeuge Max Domming wiedergegeben, der folgende Geschichte auch beeiden möchte: "Im November 1945 hielt ich mich als Fünfzehnjähriger in der unmittelbaren Nähe des Marienburger Bahnhofs auf. Mit großem Geschrei stürzten plötzlich unter massiver Gewaltanwendung (Knüppeleinsatz) durch die polnische Miliz etwa 200 bis 300 Personen, Frauen und Kinder, durch das Haupttor des Bahnhofs auf die Straße. Sie wurden wie Vieh in Richtung Innenstadt getrieben. (...) Ein auf die Straße gefallener Junge wurde dabei niedergetrampelt und unversorgt liegen gelassen. Das damalige brutale Geschehen durch die polnische Miliz ist mir unvergessen geblieben und durch die jetzige Berichterstattung in der Presse über die Funde in Marienburg ganz unverhofft in meine Gegenwart zurückgekehrt."

Foto: Zerstörte Ostseite der Marienburg 1945: Desaströse Forschungslage dieses düsteren Kapitels deutscher Geschichte

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