© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/09 06. Februar 2009

Verlorene Söhne: Ein Arte-Themenabend zur Jugendgewalt in Europa
"Keiner stirbt unschuldig"
Silke Lührmann

Schlagzeilen über die Katerstimmung an den Finanzmärkten locken bald keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor und erst recht keinen Zeitungskäufer an den Kiosk, also müssen neue Hiobsbotschaften her: Jüngst vermeldete das Boulevardblatt Daily Mirror, immer mehr britische Jugendliche trauten sich nicht länger ohne kugelsichere Westen in die Schule. Dabei sind auf der Insel - anders als etwa in US-amerikanischen Großstädten - Schußwaffen gar nicht das Hauptproblem. Eine Mehrzahl der 26 Opfer, die Bandenkriege 2007 allein in London forderten, kam bei Messerstechereien ums Leben.

Das pubertierende Gehirn ist eine Großbaustelle

Schnell eskaliert ein Streit; jemand ist zur falschen Zeit am falschen Ort; seltener, als man annehmen sollte, sind Alkohol und Drogen im Spiel. Auch wer meint, derartige Bluttaten seien kein Wunder in der vermeintlich multikulturellen Metropole - mehr Pulverfaß als Schmelztiegel -, ist auf der falschen Fährte. Denn zumeist entladen sich die Konflikte nicht entlang ethnischer Fronten, vielmehr kommt es darauf an, wer in welcher Straße wohnt und zu welcher Postleitzahl sie gehört.

Wenn Schulleiter - wie 2006 an der mittlerweile berüchtigten Neuköllner Rütli-Schule sowie zuletzt wieder in Berlin-Mitte - ob der hiesigen Zustände Alarm schlagen, wirkt ein Blick auf andere westeuropäische Länder als Trost und Warnung zugleich: Trost, daß alles noch gar nicht so schlimm ist, und Warnung, daß es noch viel schlimmer werden kann. Ebendiesen Blick über den Tellerrand nationaler Befindlichkeiten wagt der deutsch-französische Sender Arte mit einem zweistündigen Themenabend (Dienstag, 10. Februar, 21 Uhr) zur "Generation Gewalt - Jugendkriminalität in Europa".

Furchtlose Kamerateams begeben sich in die Pariser Banlieues oder lassen sich von Ortskundigen erklären, wie man in der verminten Welt des Londoner Straßennetzes überlebt. Außerhalb des eigenen Reviers, das oft nur wenige Häuserblöcke umfaßt, wird die Kapuze übers Gesicht gezogen, der Blick starr ins Leere gerichtet, die Angst reist auf Schritt und Tritt mit. Bestimmte Buslinien sind möglichst zu meiden. "Du kannst auch Glück haben", beteuert ein Mädchen. "Manchmal begegnest du zwanzig Jungen, und nichts passiert."

"Keiner, der stirbt, ist unschuldig", sind sich die Jugendlichen sicher. Die Bürgerinitiativen, die sich die Eindämmung der Gewalt auf die Fahnen geschrieben haben, sehen das anders. Immer wieder haben sie herzzerreißende Tragödien zu berichten über Musterschüler, zukünftige Stützen der Gemeinschaft, die gerade deshalb zur Zielscheibe wurden, weil sie nichts mit der Gang-Unkultur zu tun haben wollten.

Gewalt- und Kleinkriminalität, erfährt der geneigte Arte-Zuschauer, sei geschlechtsspezifisch, nämlich unter Jungen zwischen dem 13. und 19. Lebensjahr besonders virulent, danach klinge sie im Normalfall ab. Woran das liegt, weiß die Hirnforschung anschaulich zu erklären: Das pubertierende Gehirn gleiche einer "Großbaustelle", deswegen könne die Impulskontrolle nicht funktionieren. Autoritäres Durchgreifen helfe da ebensowenig wie verständnisvolle Gesprächsangebote, allenfalls ließen sich mit behavioristischen Methoden geeignete Kontrollmechanismen "antrainieren". Ein Betreuer in der Jugendvollzugsanstalt Adelsheim macht's vor.

Was also tun? Den gesamten männlichen Nachwuchs während der gefährlichen Jahre auf eine Insel zu verbannen, erscheint impraktikabel. Gefängnisse wiederum, betonen Experten, bieten denkbar ungünstige Bedingungen für eine spätere Resozialisierung: "Harter Strafvollzug macht hart."

Unorthodoxe Wege, die zu beachtlichen Erfolgen führen, gehen ein Hannoveraner Buchhändler und ein Jugendrichter im andalusischen Granada als Lichtgestalten dieses eher düsteren Fernsehabends. Wenn die Worte fehlen, fliegen die Fäuste um so schneller, ist Otto Stender überzeugt, und wo die Eltern nicht wollen oder können, sind andere Vorbilder gefragt. So vermittelt die von ihm gegründete Initiative "Lesementoren" für bedürftige Jugendliche. Auch Emilio Calatayud setzt auf "Lernprozesse" und verurteilt jugendliche Täter lieber zu sinnvoller Arbeit als zu Haftstrafen.

Ob sich bei der den Themenabend abschließenden fünfzehnminütigen Gesprächsrunde eine Patentlösung finden läßt, ist indes fraglich.

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