© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/09 20. Februar 2009

Gott erwartete eine Antwort
Leben wie ein Einsiedler: Spaziergänge mit Gerd-Klaus Kaltenbrunner, der jetzt siebzig wird
Georg Alois Oblinger

Es gibt immer mehr Menschen, die ohne Radio, ohne Fernseher und ohne Auto leben. Wenn aber jemand zudem auch noch auf einen Computer, ein Telefon und sogar auf eine Türklingel bewußt verzichtet, dann wird es schwierig. Von vornherein ist klar: Dieser Mensch scheut die Öffentlichkeit und den Rummel. Er will unbehelligt bleiben, sein Leben verbringen, ohne im Licht der Öffentlichkeit zu stehen.

Wie aber soll man mit einem solchen Menschen in Kontakt treten? Empfängt er überhaupt Besuch? Eines steht fest: Eine Kontaktaufnahme ist nur brieflich möglich. Es muß eine göttliche Fügung gewesen sein, daß dem Verfasser dieser Zeilen im Jahr 2004 die Anschrift von Gerd-Klaus Kaltenbrunner wie zufällig in die Hände fiel. Dadurch wurden in den vergangenen Jahren mehrere Besuche bei jenem Mann möglich, der in den siebziger und achtziger Jahren im Fokus des öffentlichen Interesses stand, der aber von einer schnellebigen, nur nach kurzfristigen Schlagzeilen schielenden Zeit fast ganz vergessen worden ist.

Am 23. Februar 1939 wurde Gerd-Klaus Kaltenbrunner in Wien geboren und studierte dort Rechtswissenschaften, Philosophie und Soziologie. 1962 kam er nach Deutschland, wo er als Lektor für verschiedene Verlage tätig war. Über München und Freiburg führte sein Weg schließlich 1974 in den Schwarzwald. Kaltenbrunner machte auf sich aufmerksam durch Publikationen wie "Hegel und die Folgen", "Rekonstruktion des Konservatismus", "Konservatismus international", "Der schwierige Konservatismus" oder "Wege der Weltbewahrung". Er galt als einer der intelligentesten konservativen Köpfe Deutschlands.

Lesen und Beten geht sowieso ineinander über

Als führendem Konservatismus-Theoretiker wurde ihm 1974 vom Herder-Verlag die Taschenbuch-Reihe Initiative anvertraut, die er bis 1988 herausgab. Jeder der 78 thematischen Bände ("Sprache und Herrschaft", "Was ist reaktionär?", "Der überforderte schwache Staat", "Die Macht der Meinungsmacher", "Auf der Suche nach der Vollbeschäftigung") wird von Kaltenbrunner mit einem pointierten Essay eingeleitet. Zahlreiche Essays zur Geistesgeschichte schrieb Kaltenbrunner auch für Zeitungen und Zeitschriften wie die Welt, die FAZ, die JUNGE FREIHEIT, die Deutsche Tagespost, Theologisches, Criticón und andere, wofür er 1986 den Adenauer-Preis für Literatur erhielt. Bundespräsident Richard von Weizsäcker nannte ihn "einen anerkannten philosophischen Essayisten, Ideenhistoriker und Biographen".

Seine Essays, durch die er viele Denker und Schriftsteller dem Vergessen entrissen hat, erschienen dann als Sammlung in sechs Bänden "Europa - seine geistesgeschichtlichen Quellen" (drei Bände bei Glock & Lutz) und "Vom Geiste Europas" (drei Bände im MUT-Verlag). Bereits 1985 wurde er als erster mit dem Balthasar-Gracian-Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. 1988 erhielt er den Mozart-Preis der Goethe-Stiftung Basel. Übersetzungen einiger seiner Werke erschienen im europäischen und außereuropäischen Ausland.

In den neunziger Jahren wurde es still um Kaltenbrunner. Der Grund hierfür lag nicht nur darin, daß die Herder-Reihe eingestellt wurde. Vielmehr gab es auch in Kaltenbrunners Leben eine deutliche Wende. Bei einem Spaziergang in seinem Garten wurde ihm schlagartig die Existenz Gottes bewußt. Es war wie ein übernatürliches Licht, das plötzlich in sein Leben einbrach. Hatte er schon bisher das Christentum aus kulturellen Gründen sehr geschätzt und gegen ungerechtfertigte Angriffe verteidigt, so erkannte er jetzt, daß Gott auch von ihm eine Antwort erwartete.

Kaltenbrunners verstärkte Zuwendung zum Glauben wirkte sich jetzt auch in seinen Veröffentlichungen aus. Es erschienen Heiligenbiographien wie "Die Seherin von Dülmen und ihr Dichter-Chronist", "TACUI - Johannes von Nepomuk" und "Geliebte Philomena". Das 1993 veröffentlichte Opus "Johannes ist sein Name" stellt einen umfassenden Streifzug durch die Geistesgeschichte dar. Als sein Lebenswerk betrachtet Kaltenbrunner seine mehr als 1.300 Seiten umfassende philosophisch-theologisch-literarische Symbiose, die nach seinem Lieblingsheiligen, dem wichtigsten Universalgelehrten des Mittelalters, benannte "Dionysius vom Areopag".

Der Mann, der ein solches Lebenswerk vorweisen kann, der noch vor wenigen Jahrzehnten in konservativen Kreisen von einem Vortrag zum nächsten reiste und dem die Radio- und Fernsehmoderatoren fast die Tür einrannten, weil sie seine Stellungnahmen zu aktuellen Themen hören wollten, lebt jetzt in völliger Zurückgezogenheit. Sein Haus steht am Ortsrand einer Kleinstadt als vorletztes einer Straße, die in einen Feldweg übergeht, welcher direkt in den Wald führt. Über einen kleinen Vorgarten gelangt man ins Haus, das mit wohnlichem Ambiente aufwartet. Das Wohnzimmer ist in Kaltenbrunners Lieblingsfarben gehalten: hellgrün und "schlüsselblumengelb". Man merkt sofort, daß hier ein Ästhet wohnt. Ebenso merkt man im ganzen Haus, daß hier ein belesener Mann wohnt. Im obersten Stock findet sich eine umfangreiche, gut sortierte Bibliothek. Doch auch in allen anderen Räumen des Hauses stößt man auf gefüllte Bücherregale, neben denen meist ein Stuhl, ein Sessel oder ein Kanapee nebst Tisch zum Verweilen einlädt. Auch im Garten gibt es mehrere Leseecken.

Den größten Teil seiner Zeit verbringt Gerd-Klaus Kaltenbrunner mit Lesen, wobei die aktuelle Tagespolitik immer mehr an Bedeutung verliert. Er will sich vor allem den bleibenden Dingen widmen. Neben den klassischen Werken liest er aber auch das Brevier der katholischen Geistlichen, bei dem er ganz ergriffen ist von der Sprachgewalt der alttestamentlichen Psalmen und kirchlichen Hymnen. Doch Lesen und Beten geht bei Kaltenbrunner sowieso ineinander über. Vor allem haben es ihm Lyriker wie Angelus Silesius und der in Vergessenheit geratene Ludwig Derleth angetan.

Gerd-Klaus Kaltenbrunner bezeichnet sich selbst als "christlichen Esoteriker". Entgegen dem heute vorherrschenden Wortgebrauch versteht er unter Esoterik nicht eine Form des Okkulten mit magisch-heidnischen Praktiken, auch verbindet er hiermit nicht ein Spezialwissen, das nur wenigen Auserwählten zuteil wurde. Vielmehr will er wie ein heiliger Dionysius oder ein Meister Eckhart radikal ernst machen mit der biblischen Forderung: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Denken." (Mt 22,37)

Ebenso wichtig wie das Lesen und Beten ist dem Schriftsteller und Philosophen ein Leben in Einklang mit der Natur. Er trinkt Tee aus selbstgesammelten Kräutern und Wein aus der heimischen Region. Außerdem ernährt er sich seit einigen Jahren rein vegetarisch. Vermutlich ist das der Grund für seine auch heute noch überaus schlanke Figur. Einen Ausgleich zu seiner rein geistigen Tätigkeit stellen seine Spaziergänge dar. Dazu gehört auch der tägliche Weg zum Postamt, wo er seine Post stets selbst abholt.

Im Gespräch zeigt der körperlich kleine Mann mit den blitzenden Augen immer wieder seine starke Präsenz und Geistesschärfe. Die Klarheit des Urteilsvermögens, die viele Leser an Kaltenbrunners Essays so schätzten, hat dieser Mann auch in fortgeschrittenem Alter nicht verloren. Auch wenn er nicht mehr schreibt, beschäftigt er sich doch sehr mit religiösen, kulturellen und metapolitischen Fragen - allerdings auch bei aktuellen Themen stets mit Blick auf den größeren, geschichtlichen Zusammenhang.

Die Frage nach seinem Verstummen drängt sich auf

Wenn man Gerd-Klaus Kaltenbrunner besucht, muß man ihm natürlich eine Frage stellen, jene nach seinem öffentlichen Verstummen. Kaltenbrunner verweist auf sein umfangreiches Werk, das er vorgelegt hat und das es immer noch zu lesen gelte. Tatsächlich: Was dieser Mann geschaffen hat, hat bleibenden Wert. Das vorgelegte Œuvre beleuchtet die europäische Geistesgeschichte von verschiedenen Seiten und ist immer noch für jeden suchenden Menschen eine reichhaltige Fundgrube.

Was vor der Geschichte und letztlich vor Gott zählt, sind nicht die journalistischen und feuilletonistischen Eintagsfliegen. Nur das Qualitative hat Bestand. Durch sein Schweigen bietet einer der bedeutendsten Vertreter des intellektuellen Konservatismus der heutigen medialen Geschwätzigkeit die Stirn. Das Leben Gerd-Klaus Kaltenbrunners - das öffentliche von einst und das heutige in der Verborgenheit - ist ein Beleg dafür, daß alles Leben und Schreiben einmal verantwortet werden muß.

Im Fragebogen der FAZ hat Kaltenbrunner einmal auf die Frage nach den Eigenschaften, die er bei einem Mann besonders schätzt, geantwortet: "Charakter und Noblesse". Man gewinnt den Eindruck, daß dieser Mann, der jetzt seinen siebzigsten Geburtstag feiert, gerade diese Eigenschaften selbst ausstrahlt.

Bild: Straße mit Kirche in Kandern (1911), Gemälde von August Macke: Der Expressionist besuchte häufig die Kleinstadt Kandern im südlichen Schwarzwald, wo heute Gerd-Klaus Kaltenbrunner lebt

Georg Alois Obblinger ist katholischer Pfarrer im Bistum Augsburg und hat Gerd-Klaus Kaltenbrunner mehrfach besucht.

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