© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/09 27. Februar 2009

Gnadenlos gegen das eigene Volk
Der asiatische Dämon: Unter Stalins Knute wurde auch das vermeintlich unverletzbare Innerste des Menschen zutiefst beschädigt
Thorsten Hinz

Am Ende des Romans „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers, des antifaschistischen Pflichtbuchs schlechthin, wird aus der Perspektive eines deutschen KZ-Insassen das Resümee gezogen: „Wir fühlten alle, wie tief und furchtbar die äußeren Mächte in den Menschen hineingreifen können, bis in sein Innerstes, aber wir fühlten auch, daß es im Innersten etwas gab, was unangreifbar war und unverletzbar.“

Das traf, bezogen auf das Dritte Reich der Jahre 1938/39, als das Buch geschrieben wurde, wohl zu. Doch wer Orlando Figes Tausend-Seiten-Epos „Die Flüsterer. Leben in Stalins Rußland“ (JF 52/08-1/09) nach atemloser Lektüre aus der Hand legt, der weiß, daß die Kommunistin Seghers sich geirrt hat, weil sie den wahren totalitären Schrecken ihrer Zeit nicht kannte bzw. nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Wenn die Gewalt der äußeren Mächte brutal, intensiv und umfassend genug ist, wenn sie sich für ganze Generationen als unentrinnbar erweist, dann greift sie auch das Innerste des Menschen an und fügt ihm unheilbare Verletzungen zu, und Millionen beschädigter Einzelschicksale summieren sich zum kollektiven Delirium.

Rußland unter Stalins Knute, das sind 25 Millionen Opfer, ein Achtel der Bevölkerung: Hungertote, Erschossene, Deportierte, Gulag-Häftlinge, Arbeitssklaven, das sind zerstörte Familien und der Totalverlust zwischenmenschlichen Vertrauens. Ein Beispiel von vielen bietet die Geschichte des kleinen Pawel Morosow, der seine eigene Familie und die Nachbarn als Volksfeinde denunzierte, ans Messer lieferte und dafür in Erzählungen, Gedichten, Dramen, Filmen. Biographien und Lieder als mustergültiger Pionier gefeiert wurde. „Der Kult hatte einen gewaltigen Einfluß auf die moralischen Maßstäbe und das Bewußtsein einer ganzen Generation von Kindern, die von Pawlik lernten, daß Loyalität dem Staat gegenüber eine höhere Tugend sei als die Liebe zur Familie und andere persönliche Bindungen.“

Da verwundert es nicht, daß vielen Menschen die Bewältigung des stalinistischen Terrors bis heute nicht gelingt, daß sie sich ins Schweigen zurückziehen und selbst unbescholtene Opfer darüber nachgrübeln, wo ihre eigene, verborgene Schuld für die erlittene Verfolgung liegt.

Stalins Totalitarismus begann in Friedenszeiten, während in Hitler-Deutschland eine vergleichbare Radikalisierung ab 1941/42 einsetzte, als dem Regime die totale Niederlage vor Augen stand und es zum Äußersten, dem Judenmord, griff. Das von Figes ausgebreitete Material bietet eine zusätzliche Erklärung für die Greuel, die sich 1945 beim Einmarsch der Roten Armee in Deutschland abspielten. Zum Haß auf die Feindnation, zu den körperlichen Entbehrungen und psychischen Verwundungen kam die Brutalisierung des Lebens in der Sowjetunion. Die Soldaten gingen mit den feindlichen Zivilisten nicht viel anders um, als Stalins Regime mit ihnen und ihren Familien umgegangen war. Die Deportation deutscher Arbeitssklaven nach Sibirien war nicht als exklusive Grausamkeit gegen die besiegten Feinde gedacht, sondern das war eine in der Sowjetunion übliche Weise, Arbeitskräfte zu rekrutieren.

Figes’ Buch kann helfen, das Handeln der Russen gegen andere Nationen und das Ausbleiben ihres Bedauerns darüber besser zu verstehen und das deutsch-russische Verhältnis psychologisch zu entkrampfen. Zu Recht wird über die Kaltherzigkeit geklagt, die in Deutschland den eigenen Kriegsopfern entgegenschlägt. Der Umgang mit vergleichbaren Personengruppen in der Sowjetunion indes war unvergleichlich rücksichtsloser. Man kann Figes’ Buch nicht lesen, ohne tiefes Mitleid zu empfinden.

Was sich in der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution, während der Kulaken-Verfolgung in den zwanziger und des Großen Terrors in den dreißiger Jahren abspielte, war dem Ausland nicht unbekannt geblieben. Es gab Diplomaten, Journalisten, Geschäftsleute, Spezialisten, die vieles erfuhren und darüber nach Hause berichteten. Die Zahl der Hungertoten, die um 1933 unter den Diplomaten kursierte, bewegte sich zwischen fünf und zehn Millionen. Entsprechende Meldungen gingen auch nach Berlin.

Die Massenverhaftungen, Erschießungen, die Atmosphäre allgemeiner Angst waren ebenfalls bekannt. Jedermann war klar, daß Stalins Regime mit einer verbrecherischen Energie am Werk war, wie sie die Welt noch nicht erlebt hatte. Wenn das Regime gegen sein eigenes Volk keinerlei Gnade kannte, wozu würde es dann in einem äußeren Konflikt bereit sein? Je wahrscheinlicher ein Waffengang zwischen Deutschland und Rußland wurde, desto mehr war man in Berlin mit der Aussicht konfrontiert, daß dieser Krieg einen ganz anderen Charakter haben würde als der in Westeuropa.

Die geschichtspolitische Brisanz des Buches betrifft also auch Deutschland, dessen angestellte Historiker sich vor Kontextualisierungen fürchten. So glaubt Felix Römer, der eine Dissertation zum Thema „Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42“ (Paderborn 2008, siehe Seite 15) vorgelegt und für die Wochenzeitung Die Zeit und Spiegel online lange Aufsätze verfaßt hat, daß die Befolgung des bis 1942 gültigen Befehls durch die Wehrmacht „nicht allein aus blindem Gehorsam“ geschah, sondern aufgrund des „dämonisierenden Feindbildes“, in dem die russischen Politkommissare als „Hetzer“, „Unterdrücker“, „Henker“ erschienen. Doch Figes weist nach, daß es überhaupt keiner nationalsozialistischen Haßpropaganda bedurfte, um das bolschewistische Regime als dämonisch erscheinen zu lassen. Seine Dämonie lag auf der Hand und war weithin bekannt.

Historiker hätten also seriöserweise zu prüfen, ob der im Juni 1941 erlassene, zweifellos verbrecherische „Kommissarbefehl“, die „politischen Kommissare“ der Roten Armee, „um ihnen jede Einflußmöglichkeit auf die gefangenen Soldaten abzunehmen“, von ihnen „abzusondern“ und ihnen den „für die Kriegsgefangenen völkerrechtlich geltende Schutz“ zu entziehen, nicht mit der Aussicht auf die Andersartigkeit des Krieges zusammenhing, die sich aus dem Charakter von Stalins Regime ergab. Die grundsätzliche Frage wäre zu aktualisieren, die Ernst Nolte 1986 im Historikerstreit gestellt hatte: „Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‘asiatische’ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‘asiatischen’ Tat betrachteten?“

Die Fernwirkungen von Stalins Terror, den Figes exzellent beschreibt, sind auch in Deutschland gegenwärtig. Solange sie nicht als solche benannt werden, greifen sie auf verschlungenem Wege, aber desto wirksamer und verletzender ins Innerste.

Orlando Figes: Die Flüsterer. Leben in Stalins Rußland. Berlin Verlag 2008, gebunden, 1.040 Seiten, 34 Euro

Foto: „Unter der Führung des großen Stalin  – vorwärts zum Kommunismus!“ (Plakat von Boris F. Beresowski, Michail D. Solowjow und Iwan N. Schagin, 1951): 25 Millionen Opfer

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