© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/09 13. März 2009

„Es fehlt der Roman zur Wende“
Deutsche Autoren finden zu nationalen Themen keine Worte. Wies Frederick Forsyth schon 1972 die Richtung?
Moritz Schwarz

Herr Forsyth, vor zwanzig Jahren fiel die Berliner Mauer. Erinnern Sie sich noch?

Forsyth: Natürlich. Eben sah man noch eine Spielshow im Fernsehen, und plötzlich hieß es: „Wir schalten um nach Berlin: Die Mauer ist gefallen!“ Wie bitte? – Es war unglaublich! Einfach nicht zu fassen! Ein großer Tag in der Geschichte. Vor allem, wenn man wie ich den Kalten Krieg in Deutschland hautnah miterlebt hatte.

Sie waren Reuters-Korrespondent in Berlin.

Forsyth: Ich kam als junger Journalist in den Jahren direkt nach dem Mauerbau dorthin. Peter Fechter wurde damals erschossen, also muß es so um 1962 gewesen sein. Berlin war zu dieser Zeit ein gefährlicher, aber auch ein faszinierender Ort. Viele junge Menschen haben die Mauer später einfach als historische Selbstverständlichkeit hingenommen. Aber das war sie nicht, sie war buchstäblich ein Riß durch die Welt und die Front, an der zwei bis an die Zähne bewaffnete Mächte mit aller Wucht zusammenprallten. Es war der Ort, an dem – falls es je passierte – der Dritte Weltkrieg ausbrechen würde.

Die deutsche Literatur hat dennoch fast nahtlos an die Literatur vor Wende und Wiedervereinigung angeschlossen. Zwar sind zahlreiche Bücher und Autoren mit sogenannter „Ostbiographie“ hinzugekommen, doch das Ereignis an sich – das Ende der Spaltung ihres Vaterlandes – scheint die wenigsten Literaten inspiriert zu haben.

Forsyth: Ja, das ist schon erstaunlich. Die deutsche Einheit war ja ein Jahrhundertereignis. Man fragt sich natürlich, warum es kein deutscher Autor geschafft hat, aus dieser Erfahrung einen großen Roman für die europäische Literatur beizusteuern – quasi das „Vom Winde verweht“ der Wiedervereinigung. Vermutlich hängt das auch mit 1968 zusammen, als in Deutschland eine seltsame Stimmung entstand: Die jungen Deutschen interessierten sich plötzlich mehr für die Revolution als für ihr eigenes Land. Schriftsteller wie Günter Grass oder Heinrich Böll waren in Mode. Ich betone, „in Mode“, denn – zumindest nach meiner Lektüre – waren es literarisch keine bemerkenswerten Autoren.

Nimmt man die deutsche Gegenwartsliteratur im Ausland wahr?

Forsyth: Ich kann nur für Großbritannien sprechen, und da gibt es kaum deutsche Übersetzungen. Vereinzelt mag das der Fall sein, denken Sie etwa an „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink, der eben – Oscar-prämiert – von Hollywood verfilmt worden ist. Aber handelt das Buch von der Wiedervereinigung? Nein, vom Holocaust. Beim Thema Wiedervereinigung: Fehlanzeige. Es fällt schon auf, daß kaum etwas aus Deutschland kommt, das Schlagzeilen macht. Dabei hat Deutschland einen der größten Buchmärkte der Welt, also eine gute Voraussetzung, um Bücher zu schreiben, die dann auch den Sprung auf den internationalen Markt schaffen könnten. 

Sie selbst haben sich in Ihren Romanen meist nicht für Großbritannien, sondern für fremde Länder – darunter auch Deutschland – entschieden.

Forsyth: Sie dienten mir als Szenerie, das stimmt, aber die Themen sind doch oft an englischen Interessen orientiert. Mit dem Sieg im Zweiten Weltkrieg wurde Großbritannien tief nach Europa hineingezogen, war im Verbund mit den USA zu einer Vormacht des Westens geworden. Sein Einflußgebiet erstreckte sich nun bis ins geteilte Berlin, wo die Front des außenpolitischen Konflikts verlief, der auch für Großbritannien bis 1989 entscheidend war. Dazu kommt, daß es für uns als Nation von Seefahrern und Entdeckern typisch ist, in fernen Ländern zu weilen. Seit Jahrhunderten entscheidet sich das britische Schicksal auch dort in Übersee. Das einzige, was Sie mir vorwerfen können, ist, daß ich nie über die IRA und den Nord­irland-Konflikt geschrieben haben. Der liegt nun wirklich vor der Haustür – wahrscheinlich habe ich es aber nicht getan, weil es sonst fast jeder getan hat. 

In Ihrem internationalen Bestseller „Die Akte Odessa“ – von Hollywood 1974 mit Starbesetzung verfilmt – haben Sie sich mit Deutschland beschäftigt.

Forsyth: Ich bin schon seit meiner Kindheit gut mit Deutschland, seiner Sprache und Kultur vertraut. Als ich 13 war, schickte mich mein Vater in die Nähe von Bielefeld zu einer deutschen Familie. Das war 1951, und er war der Meinung, was wir damals in Europa wenige Jahre zuvor erlebt hatten, dürfe sich niemals wiederholen, deshalb müßten wir die Deutschen besser kennenlernen. Dabei war er kein Intellektueller, sondern ein kleiner Ladenbesitzer. Bevor ich dann später nach Berlin ging, hatte ich noch in Hamburg gearbeitet. Ich habe also Deutschland über viele Jahre gut kennengelernt. Dabei bin ich auch auf die Gerüchte um „Odessa“ – die Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen – gestoßen, ein Stoff, der meinem Verleger sofort gefallen hat.

Zunächst scheint „Die Akte Odessa“ sich gänzlich in die bundesdeutsche Vergangenheitsbewältigungsliteratur einzupassen, Sie recherchierten bei Simon Wiesenthal in Wien: Ein Journalist deckt die Machenschaften ehemaliger SS-Leute in der Bundesrepublik auf und stößt auf eine Mauer des Schweigens. Dann aber wird deutlich, daß sich das Buch fundamental unterscheidet: Es versucht nicht anzuklagen, sondern zu erklären. 

Forsyth: Ich wurde schon des öfteren gefragt, warum ich keinen jüdischen Rächer zum Helden gemacht habe, sondern ausgerechnet einen jungen Deutschen, einen fiktiven Hamburger namens Peter Miller. Weil die Motivation eines Juden nachvollziehbar ist. Miller dagegen kann stellvertretend für ein Deutschland gesehen werden, das sich mit sich selbst auseinandersetzt.

Allerdings nicht in der damals gewohnten destruktiven Weise: Denn Miller wird zur Verkörperung einer möglichen jungen deutschen Generation, die über die NS-Verbrechen ehrlich entsetzt ist, aber auf jede moralisierende Anklage verzichtet.

Forsyth: Miller kommt erst langsam dahinter, was vor sich geht. Aber er reagiert darauf nicht mit Hochmut, sondern mit Erschütterung. Er will nicht einfach richten, sondern Gerechtigkeit. Ich habe nie viel davon gehalten, die NS-Vorwürfe im Kampf gegen die Eltern-Generation politisch zu instrumentalisieren, wie es viele Achtundsechziger getan haben und immer noch tun.

Schließlich parallelisieren Sie den Kampf Millers um Gerechtigkeit für die Opfer mit seinem Versuch, den Tod seines Vaters aufzuklären, eines hochdekorierten Offiziers der Wehrmacht, der von der SS ermordet wurde und für den anständigen deutschen Soldaten steht: Der Vater bleibt also trotz Waffenrock ein Held und Vorbild. Steckt in „Die Akte Odessa“ im Grunde das Zeug zum Modell für einen positiven Bewältigungsroman, zur Versöhnung der Deutschen mit sich selbst?

Forsyth: Das können Sie so sehen, die Konfrontation mit den Verbrechen des Dritten Reiches sollte nicht dazu führen, die Deutschen zu zerstören, sondern die Täter zu benennen, den Opfern Gerechtigkeit zu bringen und den Deutschen über diese verstörende Erfahrung ihrer Geschichte hinwegzuhelfen. Deshalb entpuppt sich im Buch der SS-Mörder, der die Juden umgebracht hat – als historisches Vorbild diente mir Eduard Roschmann, bekannt als „der Schlächter von Riga“ –, auch als der Mörder von Millers Vater.

Der obendrein noch Ritterkreuzträger ist – für die meisten Angehörigen der realen jungen deutschen Generation ist er damit eher Täter als Opfer.

Forsyth: Tatsächlich gab es im Krieg neben all den Verbrechen auch viel Ritterlichkeit zwischen alliierten und deutschen Soldaten, und viele wurden nach dem Krieg gute Freunde. Der Vorwurf, alle deutschen Soldaten seien schuldig, allein schon weil sie Soldaten waren, ist Unsinn. Aber die Entscheidung, einen jungen Deutschen – also einen Sohn – zur Hauptfigur zu machen, war auch ein Appell an die ältere deutsche Generation, mit der jüngeren Generation zu sprechen. Denn es gab nicht nur die übertriebene Anklage der Achtundsechziger, sondern ebenso das tödliche Schweigen vieler Väter, für das ich in der diabolischen „Odessa“ eine Metapher geschaffen habe. Ich habe damals selbst die Mauer des Schweigens erlebt, auf die dann auch Miller stößt. Seine ersten Recherche-Schritte waren tatsächlich meine eigenen. Zum Beispiel bei der Hamburger Staatsanwaltschaft: eisiges Schweigen. Bis ich herausfand, wo der zuständige Mitarbeiter während des Krieges gedient hatte – da wurde mir alles klar. Das war damals noch ein echtes Problem, und damit mußte man sich in Deutschland auseinandersetzen.

Wie lautet heute Ihre Bilanz?

Forsyth: Der Weg des Peter Miller wäre ein Weg zur Erlösung aus dem Konflikt gewesen. Aber so war die Situation in Deutschland damals nicht. Auf die Ignoranz vieler Alter folgte der Zorn und Haß vieler Junger auf die Väter und sich selbst. Heute ist Deutschland zwar einerseits das vermutlich am stärksten antinazistisch geprägte Land der Welt, aber gleichzeitig leidet es besonders unter der Geißel der Political Correctnes, alles eigene, alles Deutsche vorschnell unter Nazi-Verdacht zu stellen. Das mag auch der Grund sein für das geringe nationale Interesse an der Wiedervereinigung, das Sie beklagen. Oder für die Bereitwilligkeit, sich in die EU zu flüchten. Ist Ihnen schon aufgefallen, daß die größten EU-Fans die Länder sind, die entweder erobert wurden oder selbst Eroberer waren? Ich vermute, aus dieser historischen Erfahrung heraus suchen sie heute Zuflucht – entweder vor dem bösen Nachbarn, dem sie einst hilflos ausgeliefert waren, oder vor einer bösen Vergangenheit als Aggressor. Und da die Briten weder das eine noch das andere waren, haben sie heute auch das geringste Interesse an der EU.

Haben Sie je an einen neuen Odessa-Roman, etwa über die Machenschaften ehemaliger Stasi-Leute im Deutschland von heute gedacht?

Forsyth: Das würde nicht funktionieren, weil man sich im angelsächsischen Raum  nicht sonderlich für die Stasi interessiert. Einen Leser in den englischen Midlands oder im US-Staat Michigan können sie dafür nicht begeistern. Obwohl, wie der gelungene deutsche Film „Das Leben der Anderen“ zeigt, darin auch tolle Geschichten stecken.

Ein britischer Historiker meinte einmal, Deutschland sei seit 1945 langweilig.

Forsyth: Nein, das stimmt bis mindestens 1989 nicht. Natürlich, seit dem Ende des Kalten Krieges spielen die großen Konflikte anderswo, vornehmlich im Nahen Osten.

Also bleiben die Deutschen uninteressant?

Forsyth: Die Deutschen beschäftigen sich heute mit Vorliebe mit den negativen Seiten ihrer Geschichte. Wenn man es auch noch verstehen kann, daß Auschwitz als Gegenreaktion einen Linkstrend ausgelöst hat, dann fragt man sich aber, warum der vergleichbare Gulag und die die Zahl der NS-Opfer übersteigende Zahl der Opfer des Kommunismus, worüber wir ja spätesten seit 1989 die Wahrheit kennen, diesen Trend nicht beendet hat. Solange diese Political Correctness existiert, müssen Sie vermutlich noch auf Ihren großen Roman zur deutschen Einheit warten.

 

Frederick Forsyth: der Bestseller-Autor „von Weltruhm“ (Neue Zürcher Zeitung) gilt als „Schöpfer des ‘Faction’-Genres“ (Charles E. Ritterband), der Verbindung von journalistisch recherchierten Fakten zeitgeschichtlicher Sujets und Roman. Der ehemalige Reuters- und BBC-Journalist schrieb Thriller mit Millionenauflage, von denen zahlreiche verfilmt wurden. Zu seinen größten Erfolgen gehört „Die Akte Odessa“ (Piper), die in Deutschland seit 1972 ununterbrochen – 2008 in 6. Auflage – erschienen ist und in der er den die Nachkriegszeit prägenden deutschen Generationenkonflikt um die Vergangenheitsbewältigung verarbeitet. Geboren wurde Forsyth 1938 in der südostenglischen Grafschaft Kent.

Foto: Deutsche Literatur: „Weg zur Erlösung aus dem Konflikt“ 

 

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