© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/09 13. März 2009

Das Rätsel der gemarterten Blume
Unerträgliche Wahrheiten: Antonin Artaud erkennt in Vincent van Gogh einen „Selbstmörder durch die Gesellschaft“
Harald Harzheim

Im „Van-Gogh-Jahr“ überkübeln uns die Verlage mit zahlloser Literatur über den Frühverstorbenen, darunter Spezialanalysen wie „Van Goghs Ohr. Paul Gauguin und der Pakt des Schweigens“ von Rita Wildegans und Hans Kaufmann. Diese klärt endlich, ob sich van Gogh selbst das Ohr abschnitt oder sein Kollege Gauguin das blutige Werk vollzog. Über 300 Seiten ist sie lang, eine penible Detailanalyse. Das Resultat: Der Untäter hieß Gauguin.

Aber auch Antonin Artauds „Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft“ (1946), bislang nur in einer Textsammlung des Autors auf dem deutschen Markt, zog jetzt als Neuauflage in die „Fröhliche Wissenschafts“-Reihe des Berliner Matthes & Seitz-Verlages ein. Hier gibt es keine Details zu klären, kunstgeschichtliche Klassifizierung findet nicht statt. Als Artaud im Frühjahr 1946 die van-Gogh-Ausstellung im Pariser Orangerie-Museum besuchte, soll er sie nur einmal – kurz und zügig – durchschritten haben, um gleich darauf seinen Essay zu beginnen. Der impressionistische Streifzug schien genug, um van Gogh als seinesgleichen zu erkennen. Der habe nicht das Antlitz eines Malers besessen, sondern das eines Philosophen, dessen Blick an Nietzsche erinnere. Und wie Nietzsche, Lautrémont, Baudelaire, Poe, Hölderlin, de Nerval oder Coleridge habe die Gesellschaft ihn zum Schweigen gebracht. Alle Genannten waren nämlich „Selbstmörder durch die Gesellschaft“. Denn sie hatten doch etwas erkannt, das der Menschheit unerträglich schien.

Mit dieser späten Studie legt Artaud (1896–1948) eine Selbstdeutung vor. Er, der seinerseits an Schizophrenie litt, den man zehn Jahre in einer Psychiatrie bunkerte (1936 bis 1946) und mit Elektroschocks „therapierte“ – ihm ist der „Wahnsinnige“ der eigentlich „Gesunde“. So auch van Gogh, während die Gesellschaft ihm diese Gesundheit, seine Einsichten nehmen wolle und dabei zu schwarzmagischen Mitteln greife – äßen deren Vertreter doch täglich in „grüner Soße“ gekochte weibliche Genitalien und schickten ihre „Schweizer Garde“, die Psychiater, auf alle Erkennenden, um sie mit deren Hilfe zu „behexen“.

Gewiß erscheint dieses Weltbild, das an Sci-fi- und Horrorfilme erinnert, seinerseits „verrückt“. Aber Artaud war klar genug, um seine Metaphern gelegentlich ins Alltägliche zu übersetzen. In einem Brief an Albert Camus erklärte er, daß „die Masse“, diese „Bestien des Okkulten“, einmal „mehr in Saus und Braus“ lebten. Und wirklich: Hat das bürgerliche Leben nicht etwas zutiefst Irreales – mit seiner surrealen Ökonomie, die ein destruktives Leben „in Saus und Braus“ ermöglichte und jetzt zusammenbricht? Lebt es nicht vom „Kannibalismus“ (um das Bild von der grünen Soße aufzugreifen)? „Behext“ es nicht mit lückenloser PR und Werbeterror für den „einzig möglichen“ Lebensstil die „einzig wahre“ Rationalität? Um den Preis wie vieler Verdrängungen? So übersetzt ist sie kaum weniger unheimlich als in Artauds magisch-metaphorischer Verfremdung.

In diesem Hexenkessel taucht van Gogh auf, offenbart mit Bildern, so intensiv gleißend wie „griechische Feuer“ oder „Atombomben“, seine „unerträglichen Wahrheiten“: „Von van Goghs Nagel aufgekratzt, zeigen die Landschaften ihr feindseliges Fleisch, die Bissigkeit der aufgeschlitzten geheimsten Winkel, da man andererseits nicht weiß, welche seltsame Kraft gerade dabei ist, sich zu verwandeln.“ Denn keine Welt-Katastrophe habe das „neurotische Schicksal der Dinge“ derart deutlich gemacht wie beispielsweise „das reine Rätsel der gemarterten Blume“ auf der Leinwand dieses Malers.

Anders als Gauguin habe van Gogh die alltäglichen Dinge nicht mythisch überhöht – im Gegenteil. Mag sein Werk auch absolut gespensterfrei sein, so legt es doch das Okkulte im Alltäglichen frei. Und genau diese schreckliche Enttarnung habe die Gesellschaft schon immer veranlaßt, van Gogh und seinesgleichen zu zerstören. Nicht umsonst habe der Maler mit einer Kugel im Bauch noch sein schwarzes Krähenbild vollendet, das die Tore zu einem finsteren Jenseits aufstieß. Dieses Szenario – Sterbender malt schwarzen Vogel –, erinnert fatal an Edgar Allan Poes „Der Rabe“, wo der Protagonist sich in Konfrontation mit dem schwarzgefiederten Jenseitsboten verliert: ein Selbstmörder, aber zu dieser Tat Gezwungener.

Was aber macht die Entdeckung des Weltenabgrunds so unerträglich? Ein Genie, erklärt Artaud, könne nicht anders, als hinter allem Unheil einen bösen Willen zu vermuten. Also keinen Zufall, sondern – was bliebe sonst übrig? – einen Gott: jenes Wesen, das Artaud nach seiner – kurzzeitigen – Konversion zum Katholizismus dauerhaft befehdete, bis er endlich einen „Schluß mit dem Gottesgericht“ (so der Titel seines Hörspiels von 1947) forderte.

Eine Wohlstandsgesellschaft, die alle Todesangst, alle dionysischen Schrecken einem banalen Schmalspur-Optimismus opfert, würde sie auch Artaud zum Schweigen bringen? Der rasende Poet starb zwei Jahre später. Daß es Mord war, hätte für ihn außer Zweifel gestanden.

Antonin Artaud: Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Bernd Mattheus. Matthes & Seitz, Berlin 2009, broschiert, 105 Seiten, 12,80 Euro

Foto: Vincent Willem van Gogh, Krähen über dem Weizenfeld (Öl auf Leinwand, 1890): „... zeigen die Landschaften ihr feindseliges Fleisch“

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