© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/09 13. März 2009

Ein Leben hinter lauter Nebelkerzen
Tilman Jens analysiert in seinem „Abschied vom Vater“ die lange vor der Demenzkrankheit seines Vaters herrschende Amnesie in eigener Sache
Michael Kreuzberg

Diese verfluchten Kästen in einem tristen Keller des Bundesarchivs, Berlin-Lichterfelde!“, schrieb Tilman Jens, der Sohn des ehemaligen Rhetorikprofessors, Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers Walter Jens vor einem Jahr in der FAZ. Die „Kästen“ enthalten „11 Millionen Karteikarten“, die „elf Millionen NSDAP-Mitgliedschaften verzeichnen“, mithin „elf Millionen braune Flecken“, und einer wurde im Jahre 2003 ausgerechnet auf der weißen Vorzeigeweste von Jens’ berühmtem Vater ausgemacht.

Jens, der linksliberale Intellektuelle par excellence, der „gute Mensch von Tübingen“ galt als „kämpferischer Demokrat“, als sogenannte „moralische Instanz“, wie es ebenso griffig wie abgedroschen heißt, als eben all das, was in der BRD unweigerlich auf „Bewältigungs“-Antifaschismus hinausläuft. Eben dieser Jens hatte jahrzehntelang verschwiegen, als junger Mann Mitglied der NSDAP und des NS-Studentenbundes gewesen zu sein. Der Fall lag ähnlich wie jener von Günter Grass drei Jahre später, den Henryk M. Broder so beschrieb: „Es ist, als würde eine Familie kurz vor Weihnachten erfahren, daß Oma als junge Frau auf den Strich gegangen ist, ausgerechnet Oma, die sich immer als besonders sittenstreng gebärdet und ihren Enkeltöchtern das Tragen von Miniröcken verboten hat.“ Jens behauptete, von der Parteimitgliedschaft nichts zu wissen, sprach von einer (historisch nicht nachweisbaren) eventuellen kollektiven Aufnahme von HJ-Angehörigen, flüchtete sich in vage Stellungnahmen.

Indessen kündigte sich bereits zu diesem Zeitpunkt jenes Altersleiden an, das im Jahre 2004 endgültig ausbrach und Jens, der am 8. März 86 Jahre alt wurde, zu einem Schatten seiner selbst werden ließ. Der einst wortgewaltige Redner fristet seither sein Dasein als ins Kleinkindstadium regredierte, erinnerungslose Existenz. Ist es Zufall, daß Jens’ Geist just zu diesem Zeitpunkt im Nebel verschwand, als er mit seiner eigenen Lebenslüge konfrontiert wurde? Und hatten die „verfluchten Kästen“ nicht nur seine, sondern die Lebenslüge einer ganzen Generation ans Tageslicht gebracht? Nicht nur Jens, auch andere wie Peter Wapnewski, Walter Höllerer, Dieter Hildebrandt, Siegfried Lenz, Hermann Lübbe und Erhard Eppler wurden als ehemalige PGs „geoutet“. Ein Enthüllungsprozeß kam in Gang, in dessen Verlauf Günter Grass mit seinem Bekenntnis, Freiwilliger der Waffen-SS gewesen zu sein, den Vogel abschoß.

Es war Walter Jens’ 1954 geborener Sohn Tilman, der in diesem Zusammenhang als erster den Begriff der „Nebelkerze“ einbrachte. Der Untertitel seines nun erschienenen Büchleins „Demenz“ lautet „Abschied von meinem Vater“, und dieser „Abschied“ ist vielschichtiger Natur. Das Schicksal Walter Jens’ ist nicht gerade arm an bösen Ironien. Die erste tragische Ironie bestand darin, daß der homme de lettres und Büchermensch Jens, zu dessen Motti das Fontane-Wort „Wer am besten redet ist der reinste Mensch“ zählte, mit dem Verlust der Sprache und des Geistes gestraft wurde.

Die zweite, daß Jens im Jahre 1995 zusammen mit seinem Freund Hans Küng ein Buch mit dem Titel „Menschenwürdig sterben“ veröffentlicht hatte, in dem er sich intensiv mit dem Thema der Sterbehilfe auseinandersetzte. In einem TV-Interview formulierte er gar: „Ich glaube nicht, daß derjenige, der am Ende niemanden mehr erkennt von seinen nächsten Angehörigen, im Sinne des Humanen noch ein Mensch ist. Und deshalb denke ich, sollte jeder bestimmen können, dann und dann möchte ich, daß ich sterben darf.“

Die dritte Ironie reicht ins Sardonische hinein. Eben derselbe Mann, der jahrzehntelang die „Erinnerungsfeindlichkeit“ der Deutschen angeprangert hatte und zu den rigorosesten „Bewältigern“ und „Anklägern“ gehörte, konnte sich plötzlich à la Waldheim an nichts erinnern, ja machte sich der Lüge schuldig, als er mit den Tatbeständen konfrontiert wurde, wie sein Sohn eindeutig nachweist. Zu den Sub-Ironien des Dramas gehört unter anderem, daß schließlich eine Rede seines Vaters aus dem Jahre 1943 auftauchte, in der dieser ausgerechnet den „Zauberberg“ und die „Buddenbrooks“ seines späteren Säulenheiligen Thomas Mann als „Grabsteine einer Generation (...), die sich selber richtete“ abkanzelte. 

Der „Abschied vom Vater“ ist auch der Abschied vom unbefleckten Bild des Vaters, von der Pose, die dieser sich ein Leben lang angemaßt hat. Dabei sieht Tilman Jens weniger in der Parteimitgliedschaft des jungen Walter Jens den Sündenfall, sondern vielmehr in dessen nun offenbar gewordener lebenslanger Doppelzüngigkeit. Der scheinbar „unbequeme“ Wächter der Moral erscheint nun als selbstgerechter Prosekutor und Pharisäer, dessen Weg nicht nur „am Anfang“, wie er in einem privaten Brief eingestand, „krumm“ verlief. „Warum hat er (...) niemals über die kurze Zeit des eigenen Verführtseins geredet, geschrieben, obwohl ihn das Thema, bei anderen, so umtrieb?“

Jahrzehntelang hatte sich Jens zum Antifaschisten der ersten Stunde stilisiert, ohne ein Wort über seine nun eindeutig belegte temporäre Verführbarkeit zu verlieren. Odo Marquard bemerkte einmal: „Man entkommt dem Tribunal, indem man es wird.“ Ob nicht hier Walter Jens’ eigentliches dunkles Geheimnis zu suchen ist, wird zum Zentrum einer quälenden Spurensuche des Sohnes. Sein Vater, anwesend und abwesend zugleich, hat sein Lebensgeheimnis hinter einem ultimativ undurchdringlichen Nebel verschwinden lassen und schweigt wie die Sphinx. Jens hat nie die „kalte Selbstgewißheit eines Günter Grass“ besessen, der sein Geheimnis schließlich forsch als PR-Gag in Szene setzte, und dessen ganze verlogene Widerwärtigkeit dem Leser noch einmal bewußt wird, wenn Tilman Jens dessen Stellungnahmen zur Jens-Affäre zitiert.

Die Koinzidenz der Aufdeckung von Walter Jens’ Vergangenheit und des Ausbruchs der Demenz besitzt in der Tat eine dramaturgische Sinnfälligkeit. Deutlich wird auch, daß der vermeintliche „Solitär und Einzelgänger, der couragierte Nein-Sager“, für den ihn sein Sohn offenbar immer noch hält, stets ein Konformist des juste milieu gewesen ist, dessen „Courage“ den Rückenwind des Zeitgeistes hinter sich wußte.

So endet die „Verschwörung der Flakhelfer“ (Günter Maschke) im Satyrspiel, und unterm Strich der bohrenden Auseinandersetzung Tilman Jens’ mit seinem Vater und dessen Generation mag die Einsicht stehen, daß gerade deren pharisäerhafte Moralisierungen und politisch opportune Wächterämter bis heute verhindert haben, daß sine ira et studio darüber gesprochen werden kann, „wie es denn nun gewesen ist“ im Dritten Reich. Tilman Jens’ nüchternes und ernsthaftes Buch ist Pflichtlektüre für eine kritische Auseinandersetzung mit dem leider noch keine Altersschwäche zeigenden Komplex „Vergangenheitsbewältigung“.

Tilman Jens: Demenz. Abschied von meinem Vater. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2009, gebunden, 144 Seiten, 17,95 Euro

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