© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/09 13. März 2009

Kritik der Pseudodemokratie
Der Jurist Hermann K. Heußner und der Politologe Otmar Jung haben ihr Plädoyer für mehr Volksentscheide von 1999 auf den neuesten Stand gebracht
Heinz Fröhlich

Wir sind das Volk!“ Müssen bald auch westliche Obrigkeiten zittern? In diesem hochklassigen Buch untersuchen Sozialwissenschaftler und Staatsrechtler die Tücken der „real existierenden Demokratie“. Das Grundgesetz beschränkt Volkssouveränität auf den punktuellen Wahlakt; es begünstigt Parteioligarchen und Lobbyisten, die „vom Volk unbehelligt“ regieren.

Richtig entdecken die Autoren in der jetzt vorliegenden zweiten, völlig überarbeiteten Auflage ihres Buches von 1999 das Kernproblem in der Ideologie des Liberalismus. Europa, die USA und Lateinamerika stöhnen unter seiner Knute. „Der herrschaftlich werdende Liberalismus“ bekämpft echte Selbstbestimmung. „Liberale Eliten“ verteidigen erbittert jene „gewachsenen Machtballungen“, die Parteien und Verbände errichtet haben. Im Westen siegte die wirtschaftsliberale Strömung, deren Ahnherr John Locke den „Besitzindividualismus“ erfand. Locke subsumierte jegliches Eigentum der Privatsphäre, die er politischen Einflüssen entzog. Gemäß der liberalen Lehre habe der Staat erstrangig das individuelle Eigentum zu schützen. Daher opferte die „Besitzbürgerschaft“ in England und Frankreich oft „lieber die Freiheit als ihre Interessen“.

Streng repräsentative Systeme erleichtern die Dominanz begüterter Oligarchien, so daß „wirtschaftliche Macht“ selten zur Debatte steht. Der Liberalismus macht „das autonome Individuum zum Sklaven der Konkurrenz“. Einer der Päpste liberaler Ideologie, der zweite amerikanische Präsident John Adams, sagte: „Demokratie führt dazu, alles anzufechten, alles niederreißen zu wollen.“

Derzeit kopiere die Politik nur Mechanismen des Marktes. Parteien und Lobbygruppen wetteifern um staatliche Macht, wobei sie Stimmzettel wie Aktien handeln. Staat und Bürgerschaft gelten als getrennte Bereiche. Zu fordern sei die aktive und gleichberechtigte Teilnahme der Bürger am demokratischen Prozeß. Durch „diskursive Beratung“ entstehe die „mehrheitliche Vermutung des Richtigen“. Dennoch gehe es keineswegs darum, Parlamente und Parteien abzuschaffen. Vielmehr sollen direktdemokratische Elemente die Bürgerferne des repräsentativen Systems überwinden. Beide Prinzipien seien zu koppeln. Freilich bleibt ungeklärt, ob mehr Demokratie auch ein größeres Maß an „sozialer Gerechtigkeit“ erfordert.

Was ist unter „direkter Demokratie“ zu verstehen? Wichtige Fragen unterliegen hierbei dem Volksentscheid. Jeder politischen Initiative, die ausreichenden Zuspruch erhält, soll eine Volksabstimmung folgen. Die Schweiz offenbare, wie gut Demokratie funktionieren kann. Zwischen 1802 und 1874 führten die Schweizer ein System der Volksabstimmungen ein, das Bürgerentscheide über Verfassungen und Gesetzesanträge erlaubt. Sogar 21 Bundesstaaten der USA kennen Volksabstimmungen bezüglich der gleichen Sachfragen wie die Schweiz. Dieses Recht erkämpften sich Amerikaner im frühen 20. Jahrhundert, als sie Großkonzernen entgegentraten. Plebiszitäre Normen in das Grundgesetz aufzunehmen, gelang nach der Wiedervereinigung nicht. Nochmals triumphierten die Anhänger „elitärer Repräsentation“. Heute belagern immer mehr Bürger die Zitadelle der Obrigkeit. „Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“

Hermann K. Heußner, Otmar Jung (Hrsg.):Mehr direkte Demokratie wagen. Volksentscheid und Bürgerentscheid: Geschichte, Praxis, Vorschläge. Olzog Verlag, München 2009, broschiert, 477 Seiten, 34,90 Euro

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