© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/09 13. März 2009

Zum historischen Gerichtstermin angetreten
Ein Waffen-SS-Angehöriger reflektiert die Rolle seiner Generation zwischen Verführung, Schuld und Ausweglosigkeit
Doris Neujahr

Die „Lebenserzählung“ von Rudolf Kreis geht über das Persönliche hinaus. Sie ist auch ein Bericht über eine ausgeblutete Generation und eine Archäologie der deutschen Psyche. Kreis wurde 1926 geboren, ist aufgewachsen in Neuwied im Rheinland, wurde 1944 zum jüngsten Junker der Waffen-SS ernannt, den es je gab. Nach Fronteinsatz, Verwundung und Gefangenschaft studierte er Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte, arbeitete als Gymnasiallehrer und publizierte Bücher zur Literatur und zum Antisemitismus. Als Angehöriger der Panzerdivision „Hitlerjugend“ (von den Gegnern spöttisch „Babydivision“ genannt) stand er im Juni 1944 in der Normandie den alliierten Invasionstruppen gegenüber.

Sechzig Jahre später wurde erstmals ein deutscher Kanzler zu den Feierlichkeiten des D-Day („Day of Doom“ – „Tag des Gerichts“), dem Invasionstag am 6. Juni, geladen. Gerhard Schröder traute sich nicht, einen Kranz auf dem Gräberfeld von La Cambe niederzulegen, weil sich unter den 21.000 deutschen Gefallenen auch 5.000 Angehörige der Waffen-SS befanden. Bitter vermerkt Kreis: Getrennt blieben „immer noch die guten Toten neben den bösen Toten, letztere kollektiv verurteilt und geächtet, obwohl die Jungen alle, fast noch Kinder, sich keines Verbrechens schuldig gemacht haben. Ich war einer von ihnen. Ich zahlte dafür, daß ich sie überlebte.“ Das ist die konträre Haltung zu Günter Grass, der sich auf Kosten der toten Altersgefährten in ein genehmes Licht rückte.

Anschaulich zeichnet Kreis Kindheit und Jugend nach, die politischen Anspannungen der Weimarer Republik, die weitverbreitete Armut – der die Eltern dank einer Erbschaft enthoben waren –, die auf Hitler projizierten Hoffnungen. Die HJ-Uniform ebnete die sozialen Unterschiede zwischen den Kindern ein, stellte Gemeinschaft her und den Einzelnen in den Dienst einer angeblich großen Aufgabe. Parallel dazu ging der Alltag mit seinen Problemen und Freuden weiter. Die Absonderung der Juden durch staatlichen und sozialen Druck betraf auch Bekannte und Spielgefährten. Das Kind nahm das sensorisch wahr, ohne natürlich die furchtbare Dimension des Vorgangs zu erfassen. Die Mutter wurde nach Kriegsbeginn depressiv und in die Psychiatrie eingeliefert. 1941 starb sie, vermutlich ein Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie.

Mit der Rekrutierung für die Waffen-SS wurde Kreis überrumpelt, sich zu widersetzen war dem 17jährigen unmöglich. Die Ausbildung war hart, ja brutal, andererseits begeisterte er sich hier für Goethes „Faust“ und studierte mit Kameraden Szenen daraus ein. Den Chef des Panzerjunkerlehrgangs, ein Angehöriger der Leibstandarte, beschreibt er als „vornehme Erscheinung“, die „an einen spanischen Granden“ erinnerte. An den Endsieg glaubte er nicht und zögerte einen weiteren Fronteinsatz des 18jährigen hinaus, damit der eine Chance hatte zu überleben. Nach der Gefangennahme durch die Amerikaner wurde Kreis um ein Haar exekutiert, was keine Verbrechensstatistik je verzeichnet hätte. Es folgten Wochen in einem der berüchtigten Gefangenenlager in den Rheinwiesen, wo Zigtausende in der Frühjahrskälte unter freiem Himmel campierten, während aus dem Lautsprecher das immergleiche Lied „Keep smiling, my boy, keep smiling“ plärrte.

Der Verfasser hat  – abgesehen von der durchgängigen Antisemitismus-Kritik – darauf verzichtet, in die Schilderungen dieser Jahre ausdrücklich retrospektive Einsichten einfließen zu lassen. Die sind dem Epilog vorbehalten, der ein knappes Fünftel des Buches einnimmt. Kreis treibt darin die Frage um, warum ausgerechnet Deutschland den „Tag des Gerichts“, der das heutige Europa formte, herbeigezwungen hat, warum „gerade wir die Wut aller Weltmächte derart gegen uns aufbringen“ mußten. Zwei Antworten gibt er darauf, die aber unverbunden nebeneinanderstehen. Die erste verweist auf den christlichen Antijudaismus, der ihm selber im Kindesalter vermittelt wurde und sich unter Hitler radikalisiert habe. Allerdings hat der Autor eine trennscharfe Unterscheidung zum Antisemitismus versäumt.

Kreis befindet sich damit in paradoxer Übereinstimmung zum offiziösen Geschichtsbild – paradox deswegen, weil zu diesem Bild die pauschale Aburteilung der Waffen-SS als Verbrecherorganisation gehört. Die zweite Antwort findet sich am Ende des Buches und ist von machtpolitischen Argumenten bestimmt. Danach hatte die Gründung des Deutschen Reiches, der ein rasanter Aufstieg in Wirtschaft, Wissenschaft und Militär folgte, die globalen Ambitionen der angelsächsischen Welt gestört. Das führte zum Ersten Weltkrieg und zu Versailles, dieses wiederum zu Hitler. Damit war der Vorwand für eine zweite Koalition der Weltmächte gegeben, die Hitler in eine „doppelte Sackgasse“ manövrierte und Deutschland als machtpolitischen Faktor endgültig ausschaltete. Die naheliegende Frage, die eine Verbindung zwischen beiden Erklärungen hergestellt hätte: inwieweit Hitlers Antisemitismus von dieser internationalen Konstellation beeinflußt worden ist, wird nicht gestellt. Kreis biegt stattdessen die politisch-geschichtliche Analyse auf die Frage der Schuld zurück und verwahrt sich dagegen, sie „woanders als zuerst einmal bei uns selbst zu suchen bis in die eigene Lebensgeschichte hinein“. Wie ist dieses Nebeneinander von politisch-historischem Anspruch und Hypermoral zu erklären?

Die Erklärung bietet ein abgedruckter Brief an Ernst Nolte, der sich über den „ausgeprägten Philojudaismus“ von Kreis gewundert und die „geistige Vernichtung der Besiegten“ konstatiert hatte. Kreis hielt ihm entgegen: „Lange bevor unser Geist zum Nachdenken kam, war unser Leib klug gebombt worden zu erkennen, daß unsere Väter und geistigen Vorbilder uns in ein Unternehmen hineinidealisiert hatten, dessen Pleite von Anbeginn feststand.“ Nur machen Bomben nicht klug, sondern sie unterwerfen den Gebombten, indem sie ihm seine ausweglose Unterlegenheit als ganzheitliche Erfahrung einprägen. Kreis hat selber in erschütternder Intensität geschildert, wie die technische Übermacht der Alliierten die deutschen Soldaten „zu Kaninchen degradierte“ und ihren persönlichen Heroismus widerlegte: „Ein lächerlicher Anblick. Hitlers Elite als die Karikatur ihrer Endsieggewißheit.“ Die Widerlegung des Selbst – man kennt das aus Berichten über Vergewaltigungen – verwandelt sich in persönliche Schuld, die auf dem Feld der Moral abzuarbeiten ist. So bleibt die eigene Freiheit, die Deutungs- und Handlungshoheit wenigstens als Illusion gewahrt.

Rudolf Kreis hat diesen Zusammenhang bis zur vorletzten Konsequenz beschrieben. Das macht dieses Buch so wichtig und lesenswert.

Rudolf Kreis: „Die Toten sind immer die anderen“. Eine Jugend zwischen den Kriegen. Lebenserzählung. Landtverlag, Berlin 2009, gebunden, 564 Seiten, 39,90 Euro

Foto: Franz Marc, Kämpfende Formen (Öl auf Leinwand 1914): Eine Archäologie der deutschen Psyche

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