© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/09 20. März 2009

Der Steppenwolf im Asphaltdschungel
Wenn Gott seinen schlechten Tag hat: Vor fünfzig Jahren verstarb der Krimi-Klassiker Raymond Chandler
Harald Harzheim

Wenn die Szenerie irgendwie an Edward Hopper erinnert, also im nächtlichen Los Angeles der 1930er Jahre spielt, wo einsame Schattengestalten in Vorstadtbungalows oder heruntergekommenen Bars ihren Whisky kippen, die Zigarette lässig im Wundwinkel tragen, während die Bleipuste in der Tasche des Jacketts auf ihren Einsatz wartet, wo das Flackern einer verendenden Neonröhre eine zwielichtige Lady illuminiert, von der man nicht weiß, ob sie eine Femme fatale, Prostituierte oder beides gleichzeitig ist – wenn dann noch ein Detektiv namens Philip Marlowe auftritt, ist klar: Wir befinden uns in der Welt Raymond Chandlers, neben Dashiell Hammett  der  Klassiker amerikanischer Detektivliteratur.

Aber anders als Kollege Hammett, der vor dem Start als Autor bereits eine Karriere bei der Detektivagentur Pinkerton absolvierte, fing bei Chandler alles ganz harmlos an – akademisch halt.

Nach der Scheidung seiner Eltern wurde der Siebenjährige – 1888 in Chicago (Illinois) geboren – von seiner Mutter nach London gebracht, um dort eine humanistische Bildung zu erwerben, Sprachkenntnisse inklusive. Trotz früher Begabung als Pointendrescher ließ nichts den Autor erahnen, dessen Sprachschöpfungen die amerikanische Detektiv- und Asphaltliteratur bis heute prägen.

Nach einem jeweils einjährigen Aufenthalt in Frankreich und in Deutschland beginnt er als freier Journalist; er schreibt für den Daily Express und die Bristol Western Gazette und veröffentlicht Gedichte unter anderem in The Westminster Gazette und The Spectator. 1907 nahm er die britische Staatsbürgerschaft an. Erst als 31jähriger sollte Chandler in die USA zurückkehren. Aber seine Zeit war noch nicht gekommen. Statt dessen schaffte er es nur zum Direktor mehrerer Ölgesellschaften, bis er 1932 – aufgrund der Weltwirtschaftskrise – diesen lukrativen Job verlor. Jetzt, mit 45 Jahren und beruflich am Ende, hatte Chandlers Stunde geschlagen: In dem Krimimagazin Black Mask, für das auch Hammett schrieb, erschien seine erste Kurzgeschichte, „Blackmailers Don’t Shoot“ (Erpresser schießen nicht). Weitere Erzählungen folgten. Die aber waren mehr als bloße Fingerübungen, wurden später oft zu Romanen ausgebaut. So verarbeitet Chandlers erster Roman „The Big Sleep“ (Der große Schlaf, 1939) die Kurzgeschichten „Killer in the Rain“ (Mord im Regen, 1935) und „The Curtain“ (Der Vorhang, 1936).

„The Big Sleep“ liest sich wie eine amerikanische Spielart des Existentialismus, der zur gleichen Zeit in Europa mit Jean Paul Sartres „Le Nausée“ (Der Ekel, 1939) Gestalt annahm. Chandlers Debütroman wirft seinen Helden, Privatdetektiv Philip Marlowe, mitten in einen Asphaltdschungel voller Bestien. Zu Beginn betritt Marlowe ein Gewächshaus, „dessen Glaswände und Dach waren schwer beschlagen, und die Feuchtigkeit fiel in dicken Tropfen auf die Pflanzen herab. Das Licht war von gespenstischem Grün, wie Licht, das durch ein Aquarium dringt. Die Pflanzen wucherten wild durch den Raum, ein Urwald von Pflanzen mit ekelhaft fleischigen Blättern und Stengeln, die aussahen wie frischgewaschene Leichenfinger“.

Tiermetaphern durchziehen den Text, der einen greisen General – der es nur noch in tropischen Gewächshäusern aushält – mit einer Spinne vergleicht  und dessen Tochter als Katze beschreibt, „die im hohen Gras eine Schwarzdrossel beschleicht“, deren Pupillen sich bei Erregung so erweitern, bis die Augen gänzlich schwarz sind. Hier herrscht das Gesetz des Dschungels, dominieren die Triebe. Mord, Erpressung, Geldgier, Geilheit. Das finstere Umfeld ist ins Surreale gesteigert. So ist der Fotoapparat, der die Orgien der nymphomanischen Carmen aufnimmt, in einer Skulptur versteckt, die ihrerseits an einen Totempfahl erinnert: ein Assoziationsspiel mit archaischen Kulten.

So labyrinthisch die Szenerie, so verwirrend die Handlung. Trotz präziser Fügung der Handlungsstränge läßt Chandler Spielraum für Zufälliges und Ungeklärtes. Als Regisseur Howard Hawks 1946 „The Big Sleep“ mit Humphrey Bogart verfilmte, stritten beide darüber, „ob eine der Personen ermordet wurde oder Selbstmord beging. Sie erkundigten sich mit einem Telegramm bei mir, aber verdammt, ich wußte es auch nicht“ (Chandler).

In der damaligen Literatur (sowie im Film) bildeten die Gangsterbanden das amerikanische Pendant zum europäischen Sozialismus: anarchische Verbände, die das Überleben des Einzelnen im raubtierkapitalistischen Dschungel ermöglichten. Und das nicht nur für Gang-Mitglieder. So spendete Gangsterkönig Al Capone hohe Summen für wohltätige Zwecke, was seinen Mythos nur vergrößerte.

Dem steht der Prekarier Philip Marlowe gegenüber, der als Detektiv eine Tagesgage von 25 Dollar plus Spesen erhält und trotzdem „sauber“ durchs Leben gehen möchte – ein Ehrenkodex, der sich in allen Bereichen niederschlägt. So lehnt er erotische Angebote der sexsüchtigen Tochter eines Klienten unmißverständlich ab, um dessen Vertrauen nicht zu mißbrauchen. Wenn ein kleiner Gangster an Zyankalivergiftung stirbt, empfindet er Mitleid – während er sich sonst mit Zynismen die Seele reinigt.

Nein, Chandlers Existentialismus mündet nicht (wie bei Sartre) im Marx- oder Maoismus. Marlowes Ethik ist „freischwebend“, weder historisch noch metaphysisch fundiert. „Wie seltsam ist es doch, daß die edelsten Bestrebungen des Menschen – und viel mehr als ein kleines schmutziges Tier ist er ja nicht –, ebenso seine edelsten Taten, sein großer selbstloser Heldenmut, sein unablässiger täglicher Kampf gegen die Unbill der Welt – wie seltsam ist es, sage ich, daß diese Dinge soviel edler sind als sein Los auf dieser Erde“, heißt es in „Playback“ (1958). Selbst wenn es einen Schöpfer geben sollte, bietet der keinen Halt. Von seinem Auftraggeber wird Detektiv Marlowe belehrt: „Ist Gott glücklich mit der vergifteten Katze, die einsam und in Krämpfen hinter der Plakatwand stirbt? Ist Gott glücklich, daß das Leben grausam ist und daß nur die Tüchtigsten überleben? Die Tüchtigsten wozu? O nein, weit gefehlt. Wäre Gott in irgendeinem wörtlichen Sinne allmächtig und allwissend, würde er sich gar nicht die Mühe gemacht haben, das Universum überhaupt zu erschaffen. Es gibt keinen Erfolg ohne die Möglichkeit des Mißlingens, keine Kunst ohne den Widerstand des Materials. Wenn alles schiefgeht, ist es dann Lästerung, den Gedanken zu äußern, daß Gott seinen schlechten Tag hat und daß die Tage Gottes sehr, sehr lang sind?“ Was bleibt als Hoffnung, als gerechter Ausgleich für lebenslangen Kampf?

Die Lösung steckt im Titel „The Big Sleep“. Darin erkennt Chandlers Steppenwolf zuletzt: „Was machte es schon, wo man lag, wenn man tot war? In einem schmutzigen Tümpel oder in einem Marmorturm oben auf einem hohen Berg? Man war tot, man schlief den großen Schlaf, man brauchte sich um solche Dinge nicht zu kümmern. Öl und Wasser bedeuten dasselbe wie Wind und Luft. Man schlief einfach den großen Schlaf, unbekümmert darüber, wie ekelhaft man gestorben oder wohin man gefallen war.“ Ewiger Schlaf, der letztmögliche Trost eines Illusionslosen.

Chandler, der seit den vierziger Jahren auch als Hollywood-Drehbuchautor  tätig war, dort Skripte für Billy Wilder („Double Indemnity“, Frau ohne Gewissen, 1944) oder Alfred Hitchcock („Strangers on a Train“, Der Fremde im Zug, 1951) verfaßte, blieb bis zum Tod seinem Helden treu. Philip-Marlowe-Romane wie „Farewell, My Lovely“ (Leb wohl, mein Liebling, 1940) oder „The Little Sister“ (Die kleine Schwester, 1949) erschienen in regelmäßigen Abständen.

Zuletzt erschien „Playback“, darin wird der einsame Detektiv mit einem neuen, ihm bis dahin unbekanntem Trost konfrontiert: Er verliebt sich in Linda, eine ebenso schöne wie steinreiche Frau. Im darauffolgenden Romanfragment „The Poodle Springs Story“ (1959) heiratet der 38jährige Marlowe sie sogar und zieht mit ihr nach Poodle Springs, einem Villenviertel. Als er den Protzpalast seiner Angebetenen betritt, fühlt er sich unwohl. Wozu all dieser Plunder? Nein, für ihn kommt jeder „soziale Aufstieg“ zu spät. Statt dessen mietet er wieder ein schäbiges Büro und praktiziert seinen Job im Reichenviertel. Und natürlich sind auch die Keller der Luxusvillen mit Leichen gefüllt ...

Ob Linda den Statusboykott ihres Mannes verkraften und die Ehe halten würde? Wir werden das leider nie erfahren. Denn nach 20 Seiten brach Raymond Chandler ab; nach dem Tod seiner Ehefrau Pearl Cecily („Cissy“) 1954 war er zunehmend dem Alkohol verfallen, mehrmals mußte er sich deswegen in ärztliche Obhut begeben, bevor er am 26. März 1959 im kalifornischen La Jolla starb. Der Literaturprofessor Robert B. Parker hielt soviel Ungewißheit nicht aus, schrieb das Romanfragment zu Ende. Titel: „Poodle Springs“ (Einsame Klasse, 1989). Im Finale bricht die Ehe zwischen Linda und Marlowe zwar auseinander, aber ein Liebespaar bleiben sie doch. Schöner Schluß, oder?

Raymond Chandler: Die Philip-Marlowe-Romane. Sieben Bände in einer Kassette. Diogenes, Zürich 2009, broschiert, zusammen 1.920 Seiten, 55 Euro

Fotos: Humphrey Bogart als Privatdetektiv Philip Marlowe in der Raymond-Chandler-Verfilmung „The Big Sleep“ (1946): Unübertroffenes Vorbild für alle hartgesottenen Ermittler in einer Welt ohne Moral, Raymond Chandler; die Zeitschrift „Black Mask“ mit Chandlers Kurzgeschichte „Der Mann, der Hunde liebte“ (1936)

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