© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/09 27. März 2009

„Der Rentner von morgen“
Deutschland droht die Alterskatastrophe. Bringt die Grundrente die Rettung? In der Schweiz ist sie schon Praxis
Moritz Schwarz

Herr Dr. Grete, Deutschland steht in den kommenden Jahrzehnten vor einer Rentenkatastrophe. Experten wie Meinhard Miegel empfehlen deshalb bereits seit langem den Wechsel zu einem Grundrenten-Modell, wie es in der Schweiz schon existiert. Wäre das eine Lösung für Deutschland?

Grete: Das Schweizer System hat gegenüber dem deutschen sicher seine Vorteile, weil es mehrere Komponenten nutzt. Aber um ehrlich zu sein, keines der beiden Systeme wird in der Lage sein, die Rentenkrise, die auf uns zukommt, zu bewältigen. Denn beide geben keine Antwort auf das zentrale Problem.

Nämlich den demographischen Schwund.

Grete: Sie meinen, daß es uns an Kindern mangelt? Nein, das ist ein Irrtum. Selbstverständlich ist es ein Problem, wenn Kinder fehlen, aber der springende Punkt ist die gestiegene Lebenserwartung in der modernen Gesellschaft. Für Männer liegt sie inzwischen bei 18, für Frauen bei 23 Jahren über dem 65. Lebensjahr. Die Rentensysteme in unseren beiden Ländern wurden aber zu einer Zeit konzipiert, als das völlig anders war.

Das deutsche geht bekanntlich auf Fürst Bismarck zurück.

Grete: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag die durchschnittliche Lebenserwartung von Industriearbeitern bei rund 63 Jahren. De facto war die Rente also für die Witwen da und für eine Minderheit von Männern, denen es vergönnt war, weit ins Rentenalter hinein zu überleben. Den Herausforderungen der Gegenwart, mit einem wesentlich gestiegenen Lebensalter, einer anderen Zusammensetzung der Arbeiterschaft und modernen medizinischen Möglichkeiten, sind diese klassischen Systeme im Grunde gar nicht mehr gewachsen.

Dennoch wird das Schweizer System in Deutschland immer wieder als vorbildlich gelobt.

Grete: Es nutzt drei statt wie das deutsche nur eine einzige Säule. Die Basis unseres Systems bildet eine Grundsicherung, die nach dem Umlageverfahren finanziert wird. Dieser Teil entspricht dem deutschen Modell. Ergänzt wird dies allerdings durch zwei weitere – eine berufliche und eine private – kapitalgedeckte Vorsorgekomponenten, die in Deutschland vergleichsweise wenig entwickelt sind. Diese Bestandteile sind weniger vom Problem des zunehmenden Lebensalters betroffen als die umlagebasierte Grundrente. Allerdings sind sie von der Entwicklung des Kapitalmarkts abhängig, da der Ertrag der Kapitalanlagen für die Höhe der Rente wichtig ist. Und sie kranken an unhaltbaren Versprechungen der Politik: Das Gesetz bestimmt, zu welchem Prozentsatz das angesparte Alterskapital in Rente umgerechnet wird. Dieser Prozentsatz ist viel zu hoch, weil er eine viel zu niedrige Lebenserwartung unterstellt. Es sieht also auch für das Schweizer System nicht rosig aus.

Warum wird es dann von deutschen Experten dennoch immer wieder empfohlen?

Grete: Das Schweizer System ist etwas robuster als das deutsche. Aber das ist nur ein relatives Lob. Es gibt uns höchstens etwas mehr Zeit, etwas zu unternehmen, bevor der  Kollaps eintritt.

Seit Jahren wird den Deutschen eingetrichtert, daß die gesetzliche Rente nicht reichen wird. Seit 2001 gibt es die private Riester-Rente. De facto haben wir also auch schon ein Mehrsäulenmodell. Wo ist da noch der Unterschied zum Schweizer System?

Grete: Die Riester-Rente ist freiwillig. Die berufliche Vorsorge mit Kapitaldeckung in der Schweiz ist dagegen für alle Löhne bis rund 80.000 Franken – also etwa 53.000 Euro – im Jahr obligatorisch. Träger sind die Arbeitgeber, also Pensionskassen einzelner Firmen oder Branchengruppen, bezahlt von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu gleichen Teilen. Für Salärteile über diesen 80.000 Franken ist die berufliche Vorsorge freiwillig, aber die Regel. Die dritte Säule ist individuell und vollkommen freiwillig.

Die aktuelle Finanzkrise hat die Kapitalmärkte erschüttert. Es droht Inflation und der Zusammenbruch selbst von Versicherungsriesen wie zum Beispiel AIG in den USA. Ist die Privatvorsorge, vor Jahren noch als Wunderwaffe gepriesen, inzwischen nicht ein vergebliches Unterfangen?

Grete: So unbedingt würde ich dem widersprechen. Aber natürlich gibt es keine Garantien. Der Staat kann ja auch die Rente aus dem Umlageverfahren nicht garantieren, denn wenn die Volkswirtschaft abstürzt, ist auch dieses Geld nicht greifbar.   

Das Deutsche Finanz Service Institut in Köln warnt: „Die Finanzreserven der Lebensversicherer sind deutlich abgeschmolzen. Erstmalig sind die stillen Lasten höher als die stillen Reserven. Der zusätzliche Kapitalbedarf beträgt jetzt schon etwa vierzig Milliarden Euro.“ Und bekanntlich stehen wir erst am Anfang der Krise. Könnten wir möglicherweise in Zukunft einen vollständigen Zusammenbruch des Privatversicherungswesens erleben?

Grete: Es bricht wohl nicht die ganze Versicherungswirtschaft zusammen, aber es gibt keine Sicherheit, daß nicht weitere große Versicherer oder auch Pensionskassen insolvent werden. Viele Schweizer Kassen sind heute mit dem gleichen Problem konfrontiert: Ihre Verpflichtungen übersteigen das Vermögen. 2008 haben sie insgesamt einen Kapitalverlust von rund 100 Milliarden Franken erlitten – bei einem Gesamtkapital von rund 660 Milliarden Ende 2007. Es ist bitter, aber es gibt keine vollständige Sicherheit. Leben bedeutet Risiko.

Wenn das Problem nicht systemimmanent gelöst werden kann, dann vielleicht durch externe Faktoren: etwa durch mehr Einwanderung?

Grete: Einwanderung zur Stützung der Rente nützt nur dann etwas, wenn erstens die Volkswirtschaft zusätzliche, einwandernde  Arbeitskräfte braucht und zweitens auch die fachlich benötigten Arbeitskräfte kommen. Wenn eine Volkswirtschaft diesen Bedarf nicht hat, hilft selbst die Einwanderung von qualifizierten Arbeitskräften nicht – und pauschale Einwanderung bringt sowieso gar nichts. Dazu kommt, daß natürlich jeder Einwanderer später selbst alt wird und zu Recht Rentenansprüche besitzt und geltend macht. Wenn die Lösung des Rentenproblems – falls wegen vorgenannter Faktoren überhaupt möglich – also in verstärkter Einwanderung besteht, liefert man sich damit dieser Logik aus.

Also dann doch „Kinder statt Inder“, wie der CDU-Politiker Jürgen Rüttgers einst sagte?

Grete: Mehr Kinder sind nicht schlecht, aber auch nicht die Musterlösung. Noch einmal: Unser Problem ist ein für die heutige Lebenserwartung nicht mehr angemessenes Rentensicherungssystem. Mehr Kinder nützen nur dann etwas, wenn eine entsprechend starke Volkswirtschaft ihre Arbeitskraft benötigt. Stürben die 65jährigen im Durchschnitt drei Jahre nach ihrer Verrentung, dann wäre es beinahe egal, wie viele 65jährige und wie viele Kinder es gibt. Wenn aber ebenso viele 65jährige – wie heute der Fall – noch 18 Jahre leben, wird ihre Zahl zum großen Problem. Sie merken, die zentrale Frage ist: Wie hoch ist der Anspruch, den wir an unsere Volkswirtschaft stellen können, bei dem sie immer noch produktiv sein kann? Also ist die entscheidende Stellschraube dieser Anspruch. Das heißt, ein System zu schaffen, daß nicht per se die Volkswirtschaft überfordert. Wenn Sie mich nach einer Hierarchie der Faktoren für eine sichere Rente fragen, dann sage ich: An erster Stelle steht ein System, das den Realitäten angepaßt ist. An zweiter Stelle eine leistungsfähige Volkswirtschaft und stabile Kapitalmärkte. An dritter Stelle steht ein System, welches die Arbeitseinkommen nur moderat belastet, und frühestens an vierter Stelle kommen die Kinder, weil der Faktor Nachwuchs nur wirken kann, wenn die beiden ersten Faktoren stimmen.

Also was tun?

Grete: Radikal Abschied nehmen von unserem bisherigen Arbeits- und Pensionsmodell. Das starre Renteneintrittsalter muß flexibilisiert werden, als Orientierung sollte eher das siebzigste Lebensjahr dienen. Dazu müssen wir aber unsere Arbeitsverhältnisse so gestalten, daß die Menschen, die dazu körperlich und mental in der Lage sind, auch länger arbeiten können. Das bedeutet strukturelle Veränderungen unserer Arbeitswelt, denn in vielen Berufen kann man nicht mit Siebzig noch das gleiche tun wie mit Dreißig. Lösungen müssen gefunden werden, um ältere Arbeitnehmer rechtzeitig in solche Beschäftigungen einzugliedern, damit sie ihre Lebensarbeitszeit auch vollständig ausschöpfen können. Nicht zuletzt muß sich unsere Mentalität ändern, älteren Menschen auf dem Arbeitsmarkt auch eine Chance zu geben. Aber nicht nur die Alten von morgen müssen einen Beitrag leisten, auch die Jungen müssen früher in den Produktivprozeß eintreten als bisher. Das gilt für die Schweiz noch mehr als für Deutschland, weil bei uns die Ausbildungen noch länger dauern als bei Ihnen. Außerdem muß Erwerbsarbeit für Männer und Frauen viel stärker teilzeitmäßig flexibel möglich sein als bisher. Und zwar unabhängig von der familiären Situation, was wiederum eine entsprechende Umgestaltung dieser sozialen Systeme beinhaltet, etc. etc. Es läuft also auf einen massiven Umbau der Gesamtordnung unserer Arbeitswelt hinaus.

Warum geschieht das nicht?

Grete: Weil die Politik das Problem verdrängt. Es ist fatal, aber der Umbau ist so fundamental, daß sich innerhalb einer Legislaturperiode keine Erfolge zeigen werden, wohl aber müßten Politiker etliche soziale Grausamkeiten begehen. Das ist aber nicht förderlich für die Wiederwahl und Politiker sind nun einmal in erster Linie am Machterhalt interessiert. Allerdings ist es nicht fair, nur der Politik Vorhaltungen zu machen. Das Volk, die Wähler, müßten ebenso umlernen, sich von lieben Gewohnheiten trennen. Man sollte nicht unterschätzen, was so ein Mentalitätswechsel bedeutet. In Deutschland haben die Menschen quasi über hundert Jahre lang gelernt: Für die Rente ist nicht der Einzelne, sondern Vater Staat zuständig! Daran halten sie fest, denn eine so langfristig erlernte Einstellung kann man nicht über Nacht ändern. Aber letztlich sind es doch die Politiker, die dafür verantwortlich sind, den Kurswechsel einzuleiten. Daß sie dies nicht wagen, ist eine massive Verletzung ihrer Pflicht gegenüber dem öffentlichen Wohl.

Und die Zeche zahlen die künftigen Generationen.

Grete: Wenn wir heute über die Rentenproblematik diskutieren, dann dürfen wir uns dabei eigentlich keine alten Menschen mehr vorstellen. Wenn wir von „den Rentnern“ sprechen, dann meinen wir eigentlich junge Menschen – denn sie sind die Rentner von morgen! Damit sollte der Mentalitätswechsel vielleicht beginnen: daß das Thema Renten zum Thema der jungen Generation wird.     

 

Dr. Ulrich Grete: der ehemalige Banker leitete als Präsident bis 2007 die staatliche Schweizer Rentenversicherung AHV. Zuvor war der Jurist, Jahrgang 1942, Generaldirektor der Schweizerischen Bankgesellschaft, einer Vorgängerin der Schweizer Großbank UBS, die zu den größten Vermögensverwaltern weltweit zählt.

Zukunft  der Rente: Um die Zukunft der Rente wird seit Jahrzehnten gerungen. Schon lange plädiert zum Beispiel der renommierte Rentenexperte Meinhard Miegel für die Umwandlung der lohnbezogenen gesetzlichen Rente in eine steuerfinanzierte Grundsicherung, die durch private Vorsorge ergänzt wird. „Solidarische Grundsicherung – Private Vorsorge. Der Weg aus der Rentenkrise“ hieß sein 1999 dazu veröffentlichtes Buch (Verlag Bonn Aktuell). Die Schweiz hat diesen Wechsel  bereits 1985 vollzogen: Damals wurde neben der 1948 gegründeten, vor allem umlagefinanzierten staatlichen Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) eine kapitalgedeckte private Vorsorge „obligatorisch“, das heißt gesetzlich verpflichtend. Zusammen mit einer weiteren freiwilligen Option zur privaten Vorsorge gilt das Schweizer Drei-Säulen-Modell seitdem vielen Rentenexperten in Deutschland als Vorbild. Allerdings warnen andere, etwa der ehemalige SPD-Politiker Volkswirtschaftler Albrecht Müller, vor allzu blauäugigen Hoffnungen in die private Altersvorsorge.

Foto:  Kleinkind: „Wenn wir über Rente sprechen, dürfen wir uns künftig keine alten Menschen mehr vorstellen. Wir sprechen von den jungen Menschen, denn sie sind die Rentner von morgen. ‘Rente’ muß zum Thema der jungen Generation werden!“

 

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