© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/09 27. März 2009

CD: Kurt Leimer
Ausgleichend
Jens Knorr

Wenn auch die zwei Klavierkonzerte der Sonderedition Kurt Leimer, die von der Zürcher Kurt Leimer Stiftung herausgegeben wird, wahrlich keine unbekannten sind – ihr Interpret gilt immer noch als Geheimtip. Die historischen Mono-Aufnahmen von Johannes Brahms’ Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 83 und Tschaikowskis Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll op. 23 erschienen in den späten sechziger Jahren und 1971. Sie wiederzuveröffentlichen und dem Vergleich mit einer ganzen Reihe hochkarätiger Interpretationen auszusetzen, gibt es guten Grund, denn Kurt Leimers Interpretation hält jedem Vergleich stand (Colosseum Classics COL 9203.2).

Kurt Leimers spröde, ja, sogar abweisende Interpretation erschließt sich erst bei mehrmaligem Hören. Dann aber klingen jene äußerlich brillanten, neueste technische Errungenschaften nutzenden Kunststückchen grellbunt anstatt farbig in den Ohren, dagegen Kurt Leimers Kunst in fein abgestuften Grautönen anstatt schwarzweiß. Wer glaubte, sich seinen Brahms und Tschaikowski gründlich überhört zu haben, der hatte in Wahrheit nur überhört, was er auch aus klischierten Darbietungen vielleicht hätte heraushören sollen. Denn wie der Beginn des einen, ein Hornsolo gleich Webers „Oberon“ und Schuberts Großer C-Dur-Symphonie, so könnte der Beginn des anderen, die machtvollen Einleitungstakte mit der majestätisch ausholenden Des-Dur-Melodie in den Violinen und den wuchtigen Akkorden des accompagnierenden Klaviers – „Dem Frieden die Freiheit“ kündigte dazu einst eine pathetisch zitternde Stimme die Solidaritätskonzerte des Rundfunks der DDR an! – den Hörer in die romantische Sackgasse locken. Und weder das Spiel der Nürnberger Symphoniker unter Erich Kloss für den Brahms, noch das des Symphony of the Air – Orchestra New York unter Günther Neidlinger für den Tschaikowski, eins so zeitverhaftet wie das andere, sind geeignet, ihn da wieder hinauszuführen.

Das vermag Kurt Leimers Spiel, der beide Konzerte nicht als Ausgeburten einer landläufig als Eigenschaft mißverstandenen Romantik darstellt, welche der Musik, insonderheit der deutschen, anhafte, sondern als zwei großangelegte Versuche, inneren und äußeren Ausgleich herzustellen, bei Brahms edles Gleichmaß aus romantischem Geist, bei Tschaikowski, öffentliche Verlautbarung und private, geheime Aussage irgend noch gegeneinander auszutarieren. Die ergeben bei Brahms die viersätzige, ausufernde „Symphonie mit obligatem Klavier“, bei Tschaikowski die immer wieder irritierend unterlaufene klassisch-romantische dreisätzige Form. Kurt Leimer stellt uns beide neu und beunruhigend vor Ohren, als wären sie vorher noch nie erklungen. So müssen sie ihren ersten Hörern erschienen sein.

Mit stupendem technischen Können, das sich nie vordrängt, mit hartem Anschlag und wenig Pedalgebrauch vollzieht der Interpret kompromißlos nach, was ihm die Kompositionen vorgeben, und versagt sich, brillant zu kaschieren, daß etwa bei Tschaikowski donnernde Passagen in angestrengter Fröhlichkeit geradezu leerlaufen. Die Individualität des Meisters bewährt sich eben darin, daß er sich nicht in sich selbst zurückzieht, sondern – rücksichtslos gegen sich selbst – ihre Aufhebung im Werk betreibt. Das zeigt sich deutlich in jenen Momenten, da  Leimers Spiel eine in der Tat jazzige Unruhe in musikalische Verläufe einbringt, die jedoch in keinem Moment aufgeschminkt wirkt, sondern aus dem Wechselspiel mit dem Orchester organisch hervorgeht.

Indem er sich den Orchestern eingliedert, wird er selbst zu dem führenden Orchestermusiker, um dessentwillen allein sich das Hören beider Aufnahmen lohnt, mindestens so oft, bis man versteht.

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