© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/09 27. März 2009

Durchs Schlüsselloch
Höchste Vollkommenheit: In Hamburg sind Dégas’ Bronzeplastiken zu sehen
Fabian Schmidt-Ahmad

Es gibt Künstler, deren Werke eine derartige Präsenz besitzen, daß sie vom kollektiven Bewußtsein spontan, wie aus dem Nichts heraus, gebildet werden können. Man braucht nur wenige Informationen – Paris, Nachtcafés, Ballett –, und schon entstehen vor dem inneren Auge konkrete Farben und Formen in einem Wirbel von Assoziationen, die man mit dem Namen Edgar Dégas (1834–1917) verbindet. Wer kennt sie nicht, die Bilder aus der Pariser Oper, der Pferderennbahn, den Bordellen, die Dégas in unübertroffener Meisterschaft festhielt und die bis heute unsere – teilweise bis ins Kitschige getriebene – Vorstellung eines spezifischen Pariser Lebensgefühls prägen.

So ist der Besuch der Hamburger Ausstellung „Intimität und Pose“ auf seltsame Weise eine Art Wiedersehen, auch wenn man die versammelten Objekte in diesem Zusammenhang noch nie betrachten konnte. Denn Degas malte seine Tänzerinnen, Badenden und Rennpferde nicht nur, sondern modellierte sie später auch, als eine fortschreitende Augenkrankheit die Hände mehr und mehr zum plastischen Gestalten von Wachs zwangen. Einer breiten Öffentlichkeit enthielt er diese Plastiken jedoch vor; erst kurz nach seinem Tod wurden sie in Bronze gegossen. Trotz des Leidensdrucks von Dégas – oder gerade deswegen – sind seine Bronzeplastiken von einer spielerischen Leichtigkeit und unbedingten Lebensbejahung, die in dieser geballten Zusammenfassung beinahe erschütternd wirken können. In der Hamburger Ausstellung sind jetzt erstmals alle 73 originalen Bronzeabgüsse zu sehen.

Im zentralen Raum der Ausstellung ist Dégas’ große Obsession plaziert – das Ballett. „Bislang ist der Akt immer in Posen dargestellt worden, die ein Publikum voraussetzen, aber diese Frauen sind ehrbare, einfache Menschen, die sich allein für ihren körperlichen Zustand interessieren. Es ist, als ob man durch ein Schlüsselloch schaut“, zitieren die Ausstellungskuratoren den Künstler. Tatsächlich fällt auf, wie die Figuren trotz ihrer Nacktheit niemals provozierend wirken, noch nicht einmal auf Darstellung bedacht. Nicht der Auftritt der Ballerina wird hier gezeigt, sondern nur Sammlung und Konzentration.

Leider nehmen sich den zierlichen Figuren gegenüber die Ausstellungstische etwas wuchtig aus, was in Verbindung mit den sowieso etwas beengten Räumlichkeiten beim Besucher den unfreiwillig komischen Eindruck einer Verkaufstheke aufkommen läßt. Dennoch bleibt die Wirkung spürbar. Man merkt rasch: Hinter der vordergründig so schwerelos scheinenden Ballettkunst stehen Jahre harter Ausbildung und beständiger Ausbeutung des Körpers. Dabei geht Dégas so sachlich-präzise vor, daß heute noch Kopien der Figuren in Ballettschulen verwendet werden.

Denn auch hinter seinen scheinbar so spielerischen Bildern verbirgt sich ein manischer Arbeiter, der in unzähligen Studien die Bewegungsabläufe festhielt – Dégas besuchte zeitweilig Ballettstunden, was damals für einen Mann sehr ungewöhnlich war – und die von ihm favorisierte Technik der Pastellkreide in ungeahnte Höhen perfektionierte.

Reizvoll für diese Entwicklung im doppelten Sinne ist da die Gegenüberstellung eines Früh- und Spätwerks. Auf der einen Seite sieht man eine Ballettschule, Kinder bei Übungen an der Stange, für Dégas geradezu statisch starr.

Auf der anderen Seite der große Auftritt der Primaballerina. Für diesen Moment hat sie gelebt, sie vergißt ihre schmerzenden Gelenke, den geschundenen Leib, die Anstrengungen. Der Betrachter stürzt förmlich ins Bild, wird mitgerissen von ihrem Schwung, ihrer Schwerelosigkeit. Auch er vergißt; er vergißt, daß er nur fettige Kreide vor Augen hat, die einst ein leidender Mensch in Form gebracht hat. Farben pulsieren, werden lebendig, werden das Leben selbst, das in diesem einen Augenblick die höchste Vollkommenheit sucht.

Vielleicht ist dies das grundlegende Motiv für Dégas’ Schaffensdrang: das Leben in seiner ursprünglichen Kraft zu suchen. Ein Motiv, welches ihn dazu befähigte, den Menschen in seinem Dasein, bei der Morgentoilette, der Körperpflege, selbst bei der Zurschaustellung im Bordell, niemals hilflos nackt und entblößt, sondern immer mit einer Aura menschlicher Würde bekleidet zu zeigen.

Die Ausstellung „Edgar Dégas. Intimität und Pose“ ist bis zum 3. Mai in der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 21 Uhr, zu sehen. Der Eintritt kostet 10 Euro (ermäßigt 5 Euro). Telefon: 040 / 42 81 31-200

Foto: Edgar Degas, Tänzerin, ihre rechte Fußsohle betrachtend, Bronze

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