© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/09 27. März 2009

Das Propaganda-Verbrechen
Die deutsche Armee hinterließ 1914 in Löwen eine Zerstörungsspur / Vorlage für britische Kampagne
Dirk Wolff-Simon

Als ein herausragendes Beispiel für die deutschen Kriegsverbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung im Ersten Weltkrieg wird immer wieder der Fall Löwen vom August 1914 herangezogen und im Rahmen eines volkspädagogisch geprägten Historismus mit den Ereignissen in Oradour und anderen Orten von einschlägig historischer Bedeutung in Zusammenhang gebracht. Werden die Ereignisse in Löwen dieser Bewertung gerecht?

Rufen wir uns zunächst die militärische Situation in Erinnerung: Lange vor 1914 hatte der deutsche Generalstab im Fall eines Krieges gegen Frankreich das neutrale Belgien zum Durchmarschgebiet in Richtung Nordfrankreich erklärt. Obwohl Belgien bei Kriegsbeginn seine Neutralität bekräftigt hatte, waren – dem Schlieffen-Plan folgend – seit dem 4. August 1914 drei deutsche Armeen mit etwa einer Million Soldaten in das kleine Nachbarland einmarschiert und hatten am 19. August die etwa zwanzig Kilometer östlich von Brüssel gelegene Stadt Löwen erreicht.

Angesichts der Zwischenfälle während der ersten Kriegswochen, bei denen belgische Zivilisten Widerstand gegen die Deutschen leisteten, war die Atmosphäre unter den deutschen Truppen angespannt. Seit dem Krieg von 1870/71 gegen Frankreich fürchteten die Deutschen nichts so sehr wie die Überfälle von Heckenschützen, den sogenannten „Franctireurs“. Zweifellos ließ sich die Situation in Belgien mit jener in Frankreich zu Kriegsbeginn nicht vergleichen, gleichwohl sahen sich die Deutschen  beim Einmarsch in Belgien mit zwei Herausforderungen konfrontiert, die Unsicherheiten hervorriefen. Zum einen waren die meisten wehrpflichtigen Männer bei Kriegsausbruch in ihren Heimatorten geblieben, und zum anderen konnte man die Rolle der Guarde Civique nicht einschätzen. Letztere bestand als sogenannte Mobilisierungsreserve aus einem dem Heer zugeordneten aktiven Teil und einem inaktiven Teil außerhalb der Garnison auf dem Lande, der vornehmlich Sicherungsaufgaben wahrzunehmen hatte.

Trotz der allgemeinen Bedrohungslage fühlten sich die Deutschen in Löwen einigermaßen sicher. Aufgrund von Truppenbewegungen des Gegners wurden die in und um Löwen stationierten Truppenteile in den folgenden Tagen in Richtung Antwerpen verlegt. Zur Sicherung der Stadt und der Eisenbahnbewachung blieben lediglich mehrere Abteilungen des Landwehrbataillons Neuss und kleinere Truppenteile in der Stadt.

Am Abend des 25. August, so heißt es übereinstimmend in Augenzeugenberichten, wurden zwischen 18 und 19 Uhr unterschiedliche Alarmsignale wahrgenommen. Gegen 20 Uhr fielen dann plötzlich die ersten Schüsse. Zwischen Dienstagabend und dem folgenden Tag bis zum Mittag entwickelte sich nunmehr eine mehrstündige Schießerei zwischen den Deutschen und einem offenbar unsichtbaren Gegner, im Zuge deren es zu erheblichen Verlusten an Menschenleben und Sachwerten kam. Den Höhepunkt der tragischen Ereignisse von Löwen bildete der Brand der Löwener Universitätsbibliothek, die mit ihren 300.000 Bänden und alten Schriften ein Raub der Flammen wurde.

Nachdem sich am folgenden Tag in Löwen die Lage wieder beruhigt hatte, waren nahezu 1.100 Gebäude zerstört, und 209 Einwohner hatten im Zuge der Ereignisse, insbesondere durch die Auswirkungen der Brände, ihr Leben verloren. Rekonstruieren läßt sich, daß am Abend des 25. August 1914 offenbar die belgische Festungsbesatzung von Antwerpen einen Ausfall in Richtung Löwen unternahm und daß eine deutsche Kolonne bis in unmittelbarer Nähe der Stadt zurückgeschlagen wurde. Durch den Gefechtslärm glaubten sich die kriegsunerfahrenen Deutschen angesichts der permanenten Warnungen vor Franctireurs offensichtlich von Freischärlern angegriffen.

Flüchtende Bewohner wurden in den Straßen für vermeintliche Angreifer gehalten und beschossen, Häuser, aus denen angeblich geschossen worden war, wurden gestürmt und sofort angezündet und die Bewohner zusammengetrieben. Männliche Verdächtige wurden unter Anwendung der Kriegsrechtsartikel der auch gegenüber Nichtkombattanten geltenden Internationalen Übereinkunft betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges – der sogenannten Haager Landkriegsordnung (HLKO) – standrechtlich erschossen. Entgegen der häufigen Kritik ist anzumerken, daß die Befehlslage zur Anwendung der HLKO recht vage war und die relevanten Passagen zudem Interpretationsmöglichkeiten zuließen. 

Und die Aktionen von sogenannten Franctireurs? Zahlreiche Zeugenaussagen und Augenzeugenberichte dokumentieren dies. Alles propagandistisch gefärbte Quellen? Obgleich die nach Beendigung des Krieges im sogenannten Weißbuch veröffentlichte Darstellung aus deutscher Sicht zu den Ereignissen in Löwen in Teilen von zweifelhaftem historischen Quellenwert ist, vermitteln auch die Darstellungen der Gegenseite und jüngste Veröffentlichungen zu dieser Thematik kein eindeutiges Bild zur Rolle und Bedeutung des zivilen Widerstandes in Belgien. Sieht der Dubliner Historiker Alan Kramer (JF 33/04) „die Ursache für deutsche Exzesse gegenüber der Zivilbevölkerung im 1914 besetzten Belgien und Frankreich“ in der „extremen Anspannung, einer Art Franctireur-Paranoia, unter der die deutschen Truppen zu Beginn des Krieges litten“, so vermitteln Feldpostbriefe und Tagebücher deutscher Soldaten ein etwas anderes Bild der Lage.

Entgegen der apodiktischen Feststellung vieler Apologeten der These, daß es nachweislich keine Handlungen durch sogenannte Franctireurs gegeben hätte, läßt sich jedoch nicht ausschließen, daß es zu unkoordinierten Widerstandshandlungen sowie Fällen von Selbstmobilisierungen der Bevölkerung, insbesondere aus dem Kreis der Guarde Civique, gekommen ist. Immerhin liest man auch in Barbara Tuchmans „August 1914“ von „Frantireurs, die die deutschen Soldaten abschossen“. Zwar stellt Tuchman die damalige deutsche Angst vor Guerillakämpfern als völlig übertrieben dar, aber als bloße Erfindung wertet sie den aktiven zivilen Widerstand der Belgier und Franzosen nicht.

Somit ist durchaus anzunehmen, daß es in der hereinbrechenden chaotischen Situation am Abend des 25. August zu Handlungen von Franctireurs gekommen ist, die wiederum eine Überreaktion des deutschen Militärs auslöste, jedoch läßt die hierzu vorliegende fragmentarische Faktenlage auch nach über neunzig Jahren keine eindeutige Bewertung zu. Zudem sind die Akten des Preußischen Generalstabs durch die Wirrungen des Zweiten Weltkrieges vernichtet worden.  

Angesichts der Opfer unter der Zivilbevölkerung und der hohen Sachschäden war die Empörung auf seiten der Alliierten und der neutralen Staaten groß. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg bemühte sich um Schadensbegrenzung. Er besuchte im November die verwüstete Stadt, entschuldigte sich für die Vorfälle und versprach eine Untersuchung, deren Ergebnisse in einem Weißbuch publiziert wurden. Nach dem Krieg wurden von den alliierten Siegermächten zunächst ernsthafte Versuche unternommen, die vermeintlichen Täter von Löwen und andere der Kriegsverbrechen Beschuldigte zur Rechenschaft zu ziehen. Politiker und die Öffentlichkeit in Deutschland sprachen jedoch von einseitiger Siegerjustiz und plädierten dafür, Kriegsverbrechen in jeweils eigener Zuständigkeit zu verhandeln. Auf amerikanischen und britischen Druck hin setzte sich dieser Gedanke schließlich durch. Im Rahmen der sogenannten Kriegsverbrecherprozesse betraf jedoch keine Anklage die Vorgänge in Löwen.  Als einzige Sühne wurde Deutschland über Artikel 247 des Versailler Vertrages die Wiederbeschaffung der vernichteten Löwener Bibliotheksbestände auferlegt.

Die Ereignisse von Löwen mit dem gängigen Etikett der „Einzigartigkeit“ zu versehen, ist zweifellos verfehlt, denn auf seiten aller Kriegsparteien legte man gegenüber Zivilisten ein konsequentes Vorgehen bei vermeintlichen Verstößen gegen die militärische Sicherheit und Ordnung an den Tag. vor. Einen Nährboden bildete der Fall Löwen nur noch für die alliierte Propaganda und die einschlägigen Massenmedien, womit sich die Legende von den „Hunnenexzessen“ weiter pflegen ließ und die eigenen Untaten in den Hintergrund rücken konnten. Was sich tatsächlich in Löwen abspielte, läßt sich auch nach über neunzig Jahren nicht gänzlich erschließen, und bei der menschlichen Bewertung greift eher Nachdenklichkeit Platz. Um mit Ernst Jünger zu sprechen, wirft jeder Krieg tiefe Rätsel auf und läßt Verhaltensweisen auftreten, die vielen Menschen im Zivilleben fremd sind.

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