© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/09 03. April 2009

Tiefe Risse im Bündnis
Geopolitik: Die Nato wird sich widersprüchlichen Herausforderungen stellen – oder zerbrechen
Günther Deschner

Der Gipfel zum 60jährigen Bestehen der Nato, der in diesen Tagen in Straßburg, Baden-Baden und Kehl stattfindet, wird mehr leisten müssen, als in einer Jubiläumsfeier die kollektive Zufriedenheit über das widerzuspiegeln, was die Allianz in der Vergangenheit geleistet hat. Denn das nordatlantische Bündnis ist an einer Sollbruchstelle angelangt und steht vor Zukunftsfragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. In den ersten vier Jahrzehnten ihres Bestehens – während des Kalten Kriegs, zu dessen Einhegung sie 1949 gegründet worden war – hatte die Nato einsatzmäßig nicht viel zu tun. Derzeit ist sie mit fünf Einsätzen zwischen Mazedonien und Afghanistan weltweit so beschäftigt wie noch nie zuvor – und sucht gleichzeitig nach einer neuen Identität. Die Risse im Bündnis sind nicht zu übersehen. Die Vorstellungen der Amerikaner und der Europäer liegen weit auseinander: Globalisierung oder Beschränkung auf das Bündnisgebiet? Ungeklärte Haltungen auf den Feldern Rohstoff -, Außenhandels-, Nichtverbreitungs-, Interventions-, Drogen- und Umweltpolitik. Ein Bündnis, das in Afghanistan seit acht Jahren nicht imstande ist, eine Bauernguerilla zu bezwingen, soll sich noch viel komplexere Aufgaben aufhalsen? Weil bisherige Strategien und Strukturen nicht mehr zu all den neuen Aufgaben passen, soll zu beiden Seiten des Rhein über Veränderungen beraten werden. Zu mehr als einem Beschluß, daß es so nicht weitergehen kann, und zur Einsetzung von Planungsstäben wird es nicht reichen. Dabei schien bei der Gründung vor sechzig Jahren alles so eindeutig: Lord Ismay, der erste Generalsekretär, hatte damals off en formuliert, wozu die Nato ursprünglich da war: To keep the Americans in, to keep the Russians out, and to keep the Germans down, um die Russen aus Europa fern-, die Amerikaner drinnen und die Deutschen niederzuhalten. Auch weil nach 1945 – anders als nach dem Ersten Weltkrieg – Amerika in Europa präsent bleiben, es als Einflußgebiet und eurasischen Brückenkopf nutzen und vor sowjetischer Vereinnahmung sichern wollte, konnte es dem US-geführten Bündnis mit „glaubwürdiger Abschreckung“ gelingen, die mögliche Eskalation des Ost-West-Konflikts zu einem neuen Weltkrieg zu verhindern, über die Jahrzehnte hinweg das Scheitern der kommunistischen Sowjetunion als Weltmacht und die Auflösung ihres Paktsystems zu beschleunigen. Weil dadurch auch die deutsche Wiedervereinigung möglich wurde, hatte sich die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Nato-Allianz bis dahin doch ausgezahlt. Darüber gerät in Vergessenheit, daß gerade Deutschland im Ernstfall des Bündnisfalls ausgelöscht worden wäre. Denn für die Deutschen ging es im geostrategischen Ringen zwischen Amerika und Rußland nicht nur, wie US-Präsident Truman im März 1947 formulierte, um den Kampf „der Kräfte der Freiheit gegen jene der Tyrannei“, sondern wegen ihrer exponierten Lage im Frontverlauf des Ost-West-Konflikts auch um die existentielle Frage „rot oder tot“. Nur wenige wagten damals den realpolitischen Blick in den Orkus eines auch nuklear zu führenden Landkriegs zwischen Oder und Rhein. Die Mißhelligkeiten, die sich im Nato-Hauptquartier zwischen dem Oberkommandierenden, US-General Rogers, und seinem Stellvertreter, dem deutschen General Kießling, wegen der Einsatzplanung von taktischen Atomwaffen in Deutschland ergaben, gehören in diesen Zusammenhang, genauso das Achselzucken der britischen Premierministerin Thatcher, die Deutschen seien eben nun mal die „atomare Firewall“ des Bündnisses. Doch 1989 hatte sich erwiesen, daß alles gutgegangen war. Die militärische Bedrohung des europäisch-nordatlantischen Bündnisgebiets war überwunden worden und damit Vergangenheit. Erstmals in der modernen Geschichte waren Nordamerika, Europa und Rußland nicht mehr durch kriegsträchtige Interessengegensätze gefährdet. Nach ihrem inneren Gesetz als Verteidigungsbündnis des Westens hatte die Nato damit ihre Aufgabe erfüllt. In den Entwicklungen, die die vom Ost-West- Konflikt befreite Welt danach genommen hat, sucht das Bündnis seither nach neuer Sinngebung. Sein oder Nichtsein? Auslaufmodell oder weiterhin unverzichtbare Allianz für womöglich noch größere Aufgaben? Der amerikanische Außenpolitiker Richard Lugar nannte das Dilemma beim Namen: Entweder gehe die Nato zukünftig „out of area“ oder „out of business“. So wie die Nato von den USA zur Wahrnehmung ihrer Interessen in der Welt geschaffen und geprägt worden war, ist es auch kein Zufall, daß nun erneut ein US-Präsident dem Bündnis die Richtung wies, in der es sich entwickeln sollte: 1999, mit Clintons Kosovo-Krieg gegen Serbien, griff die Nato zum ersten Mal einen souveränen Staat an, ohne ihm einen Bruch des äußeren Friedens vorwerfen zu können. Für das neue Kriegsbild, das einen Bruch des „inneren Friedens“ als Kriegsgrund nannte, wurde eine neue Kategorie erfunden – die „humanitäre Intervention“ unter Führung der Nato- Kommandostruktur. Die neue Linie, wie sie auch spätere Nato-Gipfel als Bündnisstrategie formulierten, sah eine Selbstmandatierung für Kriegseinsätze in aller Welt vor. Von der nächsten Bewährungsprobe in Afghanistan bis zur Frage der Erweiterung um Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, nunmehr speziell um Georgien und die Ukraine, und den daraus resultierenden neuen Spannungen mit Rußland stellt sich seither ein ganzer Katalog von Fragen: Ist die Nato ihren widersprüchlichen Herausforderungen gewachsen, oder kann sie an ihnen zerbrechen? Kann sie nach der euro-atlantischen Krise um den Irak-Krieg wieder Instrument für eine engere transatlantische Partnerschaft werden? Wie kann eine neue Konfrontation mit Rußland vermieden, wie muß das Heraufziehen neuer Mächte wie China und Indien ins Kalkül gezogen werden? In Straßburg und Kehl muß die Behandlung dieser Fragen angestoßen werden.

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