© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/09 03. April 2009

Eurasiens Herz schlägt wieder
Mütterchen Rußland, Reich des Bösen: Warum das Gerede von einem neuen Kalten Krieg Unsinn ist
Alain de Benoist

Vom Marquis de Custine über Hegel bis zu Karl Marx – ganz zu schweigen von Engels, dessen antislawischer Rassismus dem Hitlers in nichts nachstand – wurde Rußland im Westen mit den immergleichen Stereotypen als „barbarischer“ Staat und als „Völkergefängnis“ verunglimpft. Dabei war seine Macht stets gefürchtet.

Das Vierzehn-Punkte-Programm, mit dem Woodrow Wilson nach dem Ersten Weltkrieg eine friedliche Zukunft sichern und eine neue Weltordnung begründen wollte, verspricht zwar, für „Rußland eine ungehemmte Gelegenheit zur unabhängigen Bestimmung seiner eigenen politischen Entwicklung und nationalen Politik herbeizuführen und ihm eine herzliche Aufnahme in der Gesellschaft der freien Nationen unter selbstgewählten Staatseinrichtungen, ja noch mehr, Hilfe jeder Art“ zu gewährleisten.

Jedoch schrieb Wilsons außenpolitischer Berater Edward House im September 1918, acht Monate nach der Verkündung des Programms vor dem US-Kongreß am 8. Januar, Rußland sei „zu groß und zu homogen, es sollte auf das Gebiet der zentralrussischen Ebene verkleinert werden ... Dann hätten wir ein weißes Blatt Papier vor uns, auf dem wir die Schicksale der Völker in Rußland entwerfen können.“

Zu Zeiten des Kommunismus ließ die Spaltung zwischen Emigranten und „Dissidenten“ einerseits, „Bolschewiken“ und „Sowjets“ andererseits kaum eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Komplexität der vorhandenen Denkströmungen zu. Wie Ernst Niekisch richtig gesehen hatte, läßt sich schon die Geschichte der russischen Kommunistischen Partei als ständiger Kampf „zwischen souveränistisch-nationalen und kosmopolitischen Kräften lesen“ (Natalja Narotschnitskaja). Das Ende des Zweiten Weltkriegs, dessen Ausgang sich in Stalingrad und vielleicht mehr noch in Kursk entschied, markierte 1945 sowohl den Sieg Stalins wie den Sieg Rußlands. Deswegen wird er, obgleich er auch der Sieg des Kommunismus war, von der großen Mehrzahl der Russen selber zuvorderst als russischer Sieg betrachtet. Und deswegen konnte der Untergang des Sowjetsystems auch – selbst bei jenen, die unter der Unterdrückung des Regimes litten – als schwarzes Kapitel in der russischen Nationalgeschichte gelten.

Hinter der im Kalten Krieg vorherrschenden Rhetorik (die „freie Welt“ gegen den „Ostblock“) verbarg sich oft eine Feindseligkeit gegenüber Rußland, die lange vor der bolschewistischen Revolution existierte und die Auflösung der UdSSR überdauert hat. Natalja Narotschnitskaja hat überzeugend dargelegt, daß man nur vorgeblich den Sowjetkommunismus bekämpfte, während in Wahrheit der „Raum der geopolitischen Nachfolge des historischen russischen Staates“ auf dem Spiel stand. Die Ereignisse seit dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung des Eisernen Vorhangs haben diese These bestätigt.

1991 akzeptierte Michail Gorbatschow die Aufnahme des wiedervereinigten Deutschland in die Nato. Im Gegenzug versprach Washington, das atlantische Bündnis nicht über die deutschen Ostgrenzen hinaus auszuweiten. Dieses Versprechen ist nicht gehalten worden, und das „neue Europa“ wurde schnell zum Angelpunkt US-amerikanischer Interessen. Die Nato lehnte nicht nur den russischen Vorschlag ab, eine nuklearwaffenfreie Zone von der Arktis bis zum Schwarzen Meer zu schaffen, sondern die Amerikaner kündigten 2002 auch den 1972 mit der Sowjetunion geschlossenen ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen auf.

Die Bombardierung Serbiens durch Nato-Truppen im Jahr 1999, die Unterstützung der „bunten Revolutionen“ in Osteuropa seit 2003, die beabsichtigte Stationierung amerikanischer Raketenabwehrsysteme in Polen und Tschechien unter dem bizarren Vorwand, sich gegen nichtvorhandene iranische Waffen rüsten zu wollen, die Förderung einer Nato-Kandidatur Georgiens, der baltischen Staaten und der Ukraine ab 2005, die Anerkennung der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung und schließlich die Unterstützung des georgischen Präsidenten Micheil Saakschwili nach dem Einmarsch seiner Truppen in Südossetien zerstreuten die letzten Illusionen. Die USA verfolgen stets dasselbe Ziel: Rußland aus dem Baltikum, dem Kaspischen und Schwarzmeer-Raum zu verdrängen, ihm jeglichen Zugang zum Mittelmeerraum und Kleinasien zu verwehren, die Grenzen der Nato immer weiter nach Osten zu verschieben, die Kontrolle über den Kaukasus und Zentralasien mitsamt den dortigen Transportwegen für energetische Rohstoffe zu erlangen.

Doch der Kreml hat mittlerweile reagiert. Nach den dunklen Jahren der Jelzin-Ära (1991/98) scheint Rußland sich entschlossen in Richtung einer multipolaren Welt zu orientieren. Wladimir Putins Intervention bei der Sicherheitskonferenz in München 2007 kündigte eine Wende an. Seine unnachgiebige Position gegenüber der Aggression Georgiens im Sommer 2008 war ein weiteres Indiz für diese neue Entwicklung.

Im Westen geht seither das Gespenst eines neuen Kalten Kriegs um. Empört wird Putins Äußerung wiederholt, der zufolge „die Auflösung der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts ist“. Freilich hütet man sich wohlweislich, den vollen Wortlaut zu zitieren: „Die Auflösung der Sowjetunion ist die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Wer sie nicht bedauert, der hat kein Herz. Wer sie in ihrer früheren Form wiederherstellen will, der hat kein Hirn.“ (Komsomolskaja Prawda, 2. Februar 2000) Tatsächlich kann derzeit keineswegs von einer Rückkehr zum Kalten Krieg die Rede sein, der nämlich auf einer inzwischen verschwundenen ideologischen Kluft beruhte, sondern vielmehr von einer Wiederherstellung traditioneller historischer und geopolitischer Kraftlinien.

Die russische Identität entstand aus der Überlagerung einer stark vom byzantinischen Christentum geprägten „Kiewer“ Kultur und einer großenteils vom tatarisch-mongolischen Reich geerbten „Moskowiter“ Kultur. Geschichtlich hat sich diese Identität einzig durch den radikalen Widerstand gegen sämtliche westlich inspirierten Reformversuche seit Peter dem Großen behaupten können. Rußland ist demzufolge keine europäische, sondern eine eurasische Macht. Allerdings ist es heute auf Europa angewiesen, genauso wie umgekehrt Europa auf Rußland angewiesen ist.

Der Versuch, das russische Reich einzudämmen, zurückzudrängen oder zu zerschlagen, stellte für die westlichen Mächte stets eine große Versuchung dar. Oft genug wurde diese Versuchung in die Tat umgesetzt. Der entscheidende Unterschied liegt darin, daß es sich in der Vergangenheit um europäische Mächte handelte, während heute vor allem die USA von den strategischen Verlusten Rußlands profitieren. Europa wiederum gehört nun demselben Kontinentalblock an, den die Russen der Seemacht USA entgegensetzen wie einst Deutschland gegenüber den Briten. Rußland ist das Herz des eurasischen Kontinents, das heartland der Geopolitiker – und wer das heartland kontrolliert, kontrolliert bekanntlich die Welt.

Rußlands Verhältnis zu Europa ist von einem Gefühl der Verbitterung, der ihm widerfahrenen Undankbarkeit und Erniedrigung geprägt. Man will wieder respektiert und berücksichtigt werden. Tatsächlich erwarten die Russen völlig zu Recht von Europa eine eindeutige Linie statt des ständigen Schielens nach amerikanischen Interessen.

Europa wiederum braucht ein starkes Rußland, das seinen traditionellen Status als Großmacht und seine Rolle als strukturierender Faktor in den internationalen Beziehungen wiedererlangt hat, um seine eigene Unabhängigkeit zu bewahren und keinerlei Form von Bevormundung oder Einmischung von außen anheimzufallen. Sein politisches und geopolitisches Interesse liegt in einer möglichst engen Partnerschaft sowie einer Zusammenarbeit auf ökonomischer und technologischer Ebene mit Rußland.

Daß Europa derzeit allem Anschein nach den Weg in die entgegengesetzte Richtung bevorzugt, ändert nichts an der dringenden Notwendigkeit einer solchen neo-bismarckianischen Politik des gegenseitigen Einvernehmens. Europa muß sich endgültig vom Westen lösen und gen Osten wenden. Wenn Rußland untergeht, wird Europas eigener Untergang folgen.

 

Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften „Nouvelle Ecole“ und „Krisis“.

Foto: Wladimir Putin im Kreml (2008): Gefühl der Verbitterung

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