© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/09 10. April 2009

Abstimmung mit den Füßen
Volksparteien ohne Volk: Warum sich die Bürger resigniert von der Politik abwenden
Michael Paulwitz

Obama war wieder da. Für die politische Klasse jedesmal ein zwiespältiges Erlebnis: Man zeigt sich ja gern in seiner Nähe, weil die Kameras ihn viel lieber haben als die grauen Mäuse aus den Berliner Parteiapparaten, die neben dem souverän und lässig auftretenden Polit-Prediger allerdings noch viel grauer aussehen. Wie schafft der das bloß, daß die Leute in Trauben an seinen Lippen hängen, obwohl er auch nur mit Wasser kocht?

Den deutschen Volksparteien jedenfalls läuft das Volk mit fliegenden Fahnen davon. Wahlen ändern nichts, sonst wären sie ja verboten – was früher mal als provokativer Sponti-Spruch an Uni-Wände gepinselt wurde, scheint inzwischen die Stimmungslage einer relativen Mehrheit der wahlberechtigten Deutschen zu treffen. Politik ist zum Abwinken geworden, Politiker werden als farblos, langweilig und lebensfremd wahrgenommen. Aufmerksamkeit erregen sie vor allem dann noch, wenn sie mit der Brieftasche winken. Deshalb sind sie wohl so vernarrt in ihre „Abwrackprämie“: Auf einmal hören ihnen alle wieder zu.

Was aber tun mit rostigen und abgenutzten Parteien, denen man nicht mehr so recht traut und die man eigentlich nicht mehr haben will? So einfach wird man die nicht los, und eine Prämie gibt’s dafür auch nicht. Also flüchtet man in die Resignation und verstärkt die stetig anschwellende Armee der Nichtwähler. Die massenhafte Wahlenthaltung, so die These des Spiegel-Korrespondenten (und Obama-Bewunderers) Gabor Steingart, stellt über kurz oder lang „die Machtfrage“.

Die größte Schwäche des deutschen Parteienstaates ist seine nahezu unangreifbare Stärke. Nach jahrzehntelangem geduldigem Ausbau ist der Zugriff der Parteien auf den Staat und seine Institutionen fast unantastbar geworden. Es waren die Linsengerichte des Wohlfahrtsstaates, mit denen die Parteipolitiker den Bürgern ihr politisches Erstgeburtsrecht abgekauft haben. Geldverteilen ist Macht, denn es schafft Bürokratie, und Bürokratie schafft Abhängigkeiten und Klientelverhältnisse, die unabhängig von den Ungewißheiten und Wechselfällen der jeweiligen Wahlentscheidungen weiterbestehen.

Die Bürger haben sich daran gewöhnt, daß der von den Parteien dominierte und kontrollierte Staat sich ihnen vor allem als sanft säugende Milchkuh darbietet und ihnen unangenehme Wahrheiten, ernste und existentielle Entscheidungen nach Kräften erspart.

Mit dem Ergebnis, daß es nur noch Sozialdemokraten gibt. Der fürsorgliche Kümmerer ist gefragt, nicht der Entscheider, der Staatspolitik über Klientelbetreuung, Außenpolitik über innere Verwaltung setzt und das für richtig Erkannte notfalls auch gegen Widerstände durchsetzt. Selbst in der Pose des Krisenbewältigers angesichts der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise und der Furcht vor ihren Folgen ergreift die politische Klasse die einmalige Gelegenheit, zum Aufspannen von allerlei Rettungsschirmen einen ungedeckten Wechsel auf die Zukunft nach dem anderen zu ziehen und so das eigene Umverteilungs- und Einflußpotential noch drastisch auszuweiten. Keine Angst, lautet die Botschaft, wir kümmern uns um alles, besonders um euer Geld.

Für viele ist das durchaus bequem, deswegen hat es bislang ja auch ganz leidlich funktioniert. Aber auf die Dauer ist es doch reichlich langweilig, von Sachbearbeitern und Sozialpädagogen regiert zu werden. Wer auf den Staatstropf schielt, wird nicht als souveräner, die Mächtigen kontrollierender Bürger wahrgenommen, sondern vornehmlich als potentieller oder tatsächlicher Transferempfänger und Betreuungsfall.

Wird sich der Bürger dieser Falle bewußt, ist es fast schon zu spät. Flucht ist zwecklos. Nicht einmal die Delegitimation durch Wahlenthaltung funktioniert. Auch wenn nur die Hälfte der Bürger wählen geht, werden doch alle Sitze, alle Pfründen, alle Zuschüsse der staatlichen Parteienfinanzierung verteilt. Regierungschefs, die gerade mal ein Fünftel der wahlberechtigten Bürger zur Zustimmung bewegen konnten, dürfen dennoch die Richtlinien der Politik bestimmen.

Das Parteiensystem braucht die Bürger im Grunde gar nicht mehr. Allenfalls noch als Staffage: Hohe Wahlbeteiligungen sind nicht notwendig, sie sehen aber besser aus. Von daher wohl die Überlegung des CSU-Politikers Stephan Mayer, seines Zeichens Wahlrechts-Berichterstatter der Unionsfraktion, in Deutschland eine „Wahlpflicht“ einzuführen. Deutlicher kann man die Mißachtung der Hoheitsrechte der Bürger kaum ausdrücken, als wenn man sie zur von der Obrigkeit verordneten Pflicht degradieren will. Vielleicht findet Mayer ja beim Koalitionspartner Zustimmung, wenn er dem Finanzminister mit Einnahmen aus Bußgeldern für Nichtwählen winkt, wie sie in den meisten Staaten mit Wahlpflicht erhoben werden, von der Türkei über Griechenland, Italien oder Ägypten bis zu vielen lateinamerikanischen Staaten.

Wer will, daß die Bürger wieder an die Urnen gehen, muß ihnen echte Entscheidungen ermöglichen und die Vorsortierung durch die Parteiapparate beschränken. Zum Beispiel durch mehr direkte Demokratie, durch bindende Volksentscheide in essentiellen Fragen und nicht nur auf Nebenkriegsschauplätzen. Durch die Aufhebung der Zugangshürden für neue, kleine Parteien, die die Vielfalt der Meinungen besser abbilden könnten; alternativ durch die Einführung eines Mehrheitswahlrechts, das den Parteien die Kontrolle über die Parlamentszusammensetzung durch die Listenaufstellung ein Stück weit entwinden würde. Oder durch die Volkswahl des Bundespräsidenten, die bei allen Unwägbarkeiten das höchste Amt im Staate gewiß niemals so beschädigen könnte wie der jetzige unwürdige Kandidatenzirkus und Parteienschacher.

Freiwillig wird die politische Klasse solche Reformen freilich nicht in die Wege leiten. Druck ausüben können die Bürger nur, wenn sie neue politische Kräfte und Bewegungen stark machen.

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