© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/09 10. April 2009

Das Kreuz mit den fehlenden Kreuzen
Nichtwähler: Seit Jahren wächst die Zahl der Bürger, die überhaupt nicht mehr zur Wahl gehen / Wissenschaftler streiten über die Ursachen
Hans Christians

Engagierte Wähler kommen in diesem Jahr voll auf ihre Kosten. Insgesamt 15 Mal wird ein Teil der deutschen Bevölkerung zur Abstimmung gerufen: Bundestagswahl, Europawahl, fünf Landtags- und acht Kommunalwahlen – für Politikinteressierte ein wahres Festessen. Doch bereits jetzt sorgen sich Politiker darum, ob die Bürger von ihrem Recht der Wahlentscheidung überhaupt ausreichend Gebrauch machen werden.

Schon der Auftakt, die hessische Landtagswahl im Januar, verhieß nichts Gutes. Mit nur noch 61 Prozent sank die Wahlbeteiligung auf einen Tiefststand. Ähnlich sah es im vergangenen Herbst in Bayern aus. Der Parteienforscher Karl-Rudolf Korte hält diese Entwicklung für einen normalen Prozeß. Die Wahlbeteiligung in Deutschland gleiche sich immer mehr dem internationalen Standard an. In der Tat ist bislang zumindest bei Bundestagswahlen die Teilnahme überdurchschnittlich hoch. Bis zur Wiedervereinigung gingen rund 80 Prozent zur Wahl, seitdem liegt die Zahl leicht darunter. Zum Vergleich: In den USA sorgte die Kandidatur Barack Obamas für eine Rekordbeteiligung – sie lag bei 66 Prozent. Frappierend ist die Entwicklung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament. Obwohl die Abgeordneten in Straßburg immer größeren politischen Entscheidungsspielraum erhalten, geht die Wahlbeteiligung kontinuierlich bergab. 2004 gingen in Deutschland nur noch rund 43 Prozent der Berechtigten zur Wahl.

Über die Ursache der sinkenden Teilnahme gibt es viele Spekulationen, aber bislang keine einheitliche Erklärung. Der FDP-Europaabgeordnete Jorgo Chatzimarkis sagte am Wochenende, er gehe davon aus, „daß die Menschen zufrieden mit der Arbeit des Parlamentes sind. Enthaltung heißt doch, daß die Leute nichts ändern möchten.“ Experten halten diese Einschätzung zumindest für gewagt. Von größerer Bedeutung sei die Tatsache, daß die Entscheidungen auf europäischer Ebene zu wenig transparent seien, im Alltag der Menschen nicht wahrnehmbar. Parteienforscher Korte sagt: „Die Menschen haben nicht das Gefühl, etwas verändern zu können. Deswegen bleiben sie zu Hause.“

Doch auch dies ist wohl nur die halbe Wahrheit. Um die Bürger stärker an politischen Entscheidungen beteiligen zu können, ist man in vielen Bundesländern dazu übergegangen, die Bürgermeister und Landräte in einer Direktwahl bestimmen zu lassen. Das Ergebnis ist frustrierend. Nicht selten nimmt nur ein Drittel diese Möglichkeit war. Auch der Wegfall der Fünf-Prozent-Klausel bei den Kommunalwahlen konnte diesen Trend nicht umkehren. Die politische Lehre hat die Nichtwähler mittlerweile in Gruppen eingeteilt. Unter den „unechten Nichtwählern“ versteht sie diejenigen, die aufgrund von Fehlern in Wahlverzeichnissen oder durch Melde-Versäumnisse keine Wahlbenachrichtigung erhalten. Ihr Anteil beträgt schätzungsweise rund fünf Prozent. Als eher gering wird dagegen die Zahl der „grundsätzlichen Nichtwähler“ eingestuft. Darunter zählen Personen, die aufgrund ihrer religiösen oder politischen Überzeugungen eine Wahlteilnahme generell ablehnen.

Die größte Gruppe stellt die Zahl der „konjunkturellen Nichtwähler“ dar. Dies sind Personen, die als politisch interessiert gelten, ihre Teilnahme aber von unterschiedlichen Faktoren wie der jeweiligen Bedeutung der Wahl abhängig machen. Gehen diese Personen zur Wahl, zählen sie in den meisten Fällen zu den Wechselwählern – ihre Bindung an eine einzelne Partei ist nur gering ausgeprägt. Die „bekennenden Nichtwähler“ machen dagegen bewußt von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch. Sie sind politisch interessiert, sehen aber keine Partei, die ihre Interessen vertritt. Gehen sie dennoch zur Wahl, artikulieren sie ihren Prostest oftmals dadurch, daß sie den Wahlzettel ungültig machen.

Mittlerweile gibt es eine herrschende Lehre, die zwischen der „Krisentheorie“ sowie der „Normalisierungstheorie“ unterscheiden. Letztere besagt, daß die Wahlbeteiligung in Deutschland so hoch gewesen sei, weil sich nach dem Untergang des NS-Regimes ein „besonderes politischen Bewußtsein“ entwickelt habe. Mittlerweile verfüge Deutschland über eine stabile Demokratie, die Unterschiede zwischen den Parteien seien relativ gering. Die Menschen, die nicht zur Wahl gingen, seien mit dem System an sich zufrieden, wollen aber an der Tagespolitik nicht mehr teilnehmen. Damit ließe sich auch die konstant sinkende Mitgliederzahl der Volksparteien CDU und SPD erklären.

Die Vertreter der „Krisentheorie“ knüpfen an diese Tatsache an, ziehen aber andere Schlüsse. Die sinkende Wahlbeteiligung sei nicht etwa Ausdruck von Zufriedenheit, sondern von Frustration. Die Menschen hätten kein Vertrauen mehr in die Politik und wendeten sich daher in Scharen ab. Karl-Rudolf Korte sieht darin den wirklichen Grund für die „Wahlflucht“: Der Ansehens- und Attraktivitätsverlust der Politik sei die entscheidende Ursache.

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