© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/09 10. April 2009

Krakeelsüchtige Dummheiten
Karl Marx und Friedrich Engels und ihre Beurteilung der polnischen Anspruchspolitik gegen „jahrhundertealte Germanisierungspolitik“
Klaus Motschmann

Die Auseinandersetzungen um die Errichtung eines Dokumentationszentrums zum Thema „Flucht – Vertreibung – Versöhnung“ bieten für Vergangenheitsbewältiger diesseits und jenseits der Oder eine willkommene Gelegenheit, historisch-politische Legenden zu aktualisieren, die seit Jahrzehnten das öffentliche Bewußtsein in Deutschland und in Polen beherrschen. Dazu gehört die Legende, daß Hitler kein „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte, sondern deren folgerichtiges Ergebnis sei. Sie werde gekennzeichnet durch einen über die Jahrhunderte hinweg vorherrschenden Expansionsdrang nach Osten und eine entsprechend lange Herrschaft über die unterworfenen slawischen Völkerschaften mit dem Ziel ihrer Germanisierung.

Bemerkenswert an dieser Argumentation ist ihre Faktenresistenz. Ergebnisse seriöser, wissenschaftlicher Darstellungen finden keine Beachtung, sofern sie von den vorgeschriebenen Grundlinien der maßgebenden Ideologen abweichen. Andererseits werden einschlägige Aussagen von Marx und Engels verdrängt, obwohl sie dem Germanisierungs-Klischee entsprechen – und diese sogar befürworteten. Marx und Engels unterschieden im Anschluß an Hegel nämlich nicht nur reaktionäre und fortschrittliche Klassen, sondern auch Nationen.

Maßstab für die Zuordnung war die Bereitschaft zur Entwicklung der „Produktivkräfte“ und die Bereitschaft, die dafür notwendigen Voraussetzungen notfalls mit Gewalt ohne Rücksicht auf Verträge oder moralische Prinzipien durchzusetzen, sei es durch Annexion oder Revolution. Zu den fortschrittlichen Nationen gehörten für Marx und Engels Preußen/Deutschland, Großbritannien und die „Yankees“ in den USA; zu den reaktionären fast alle kleinen Nationen Europas außer Ungarn.

Die konsequente Beachtung dieser eher akademisch anmutenden Einteilung läßt sich überzeugend an den Stellungnahmen zum deutsch-polnischen Verhältnis ablesen. Polen wurde zunächst zu den fortschrittlichen Nationen gezählt, vor allem wegen seiner revolutionären Haltung gegenüber Rußland.

Im Laufe der Zeit änderte sich diese Einstellung jedoch radikal. Der Grund dafür lag in der Weigerung des polnischen Nationalismus, sich im Streben nach einem eigenen Staat an den von Marx und Engels gesetzten Maßstäben zu orientieren. Vor allem forderten die polnischen Nationalisten die Wiedergutmachung eines „jahrhundertealten Unrechts“ der Deutschen, wozu in erster Linie der Anspruch auf Rückgabe beachtlicher ehemaliger slawischer Gebietsstrecken gehörte. Es ist zu bedenken, daß diese Ansprüche bereits vor über 150 Jahren erhoben wurden und nicht erst als Folge des Zweiten Weltkriegs. Dieser Forderung widersprachen Marx und Engels entschieden, weil diese Eroberungen „im Interesse der Zivilisation“ gelegen hätten (Marx-Engels-Werke MEW 6,278). Fast alles, was in diesen beanspruchten Gebieten zur geistigen Kultur gehört, mußte „aus Deutschland eingeführt werden; nach dem deutschen Kaufmann und Handwerker begann der deutsche Geistliche, der deutsche Schulmeister, der deutsche Gelehrte sich auf slawischem Boden niederzulassen“ (MEW 8,50).

Die Polen hingegen hätten in der Geschichte „nie etwas anderes getan als krakeelsüchtige Dummheiten gespielt, auch nicht ein einziger Moment ist anzugeben, wo Polen, selbst nur gegen Rußland, den Fortschritt mit Erfolg repräsentierte oder irgend etwas von historischer Bedeutung tat“ (MEW 27,266). Deshalb könne nicht von einem „Unrecht der Germanisierung“ gesprochen werden. Im Gegenteil: Sie gehört zu den „besten und anerkennenswertesten Taten, deren sich unser Volk in der Geschichte rühmen kann“ (MEW 6,279). Engels stellte deshalb die rhetorische Frage, ob es im Interesse der Zivilisation liegen könne, „ganze Landstriche, hauptsächlich von Deutschen bewohnt, große, völlig deutsche Städte einem Volke zu überlassen, das bisher noch nicht bewiesen hat, daß es fähig sei, sich über einen auf bäuerliche Leibeigenschaft beruhenden Feudalzustand hinaus zu entwickeln?“ Mehr noch! Es würde ein Entgegenkommen an eine Bewegung bedeuten, „die sich kein geringeres Ziel gesetzt hat als die Unterjochung des zivilisierten Westens durch den barbarischen Osten“ (MEW 8,53).

Zu den unbekannten Tatsachen unserer Geschichte gehört die peinliche Übereinstimmung zwischen diesen Aussagen Engels’ und Hitlers Einleitung zu seiner Reichstagsrede am 1. September 1939: „Alle diese Gebiete verdanken ihre kulturelle Erschließung ausschließlich dem deutschen Volk, ohne das in diesen östlichen Gebieten tiefste Barbarei herrschen würde.“

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