© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/09 10. April 2009

Die Verwestlichung der Bundesrepublik Deutschland
Die Rückkehr der Geschichte blieb aus
von Karlheinz Weissmann

Die Bundesrepublik ist in Rom gezeugt und in Washington geboren!“ Was Martin Niemöller 1949, kurz nach der Verabschiedung des Grundgesetzes, sagte, steht heute so fremd da wie der Vorwurf Kurt Schumachers gegen Konrad Adenauer, er sei kein deutscher, sondern der „Kanzler der Alliierten“. Die Heftigkeit der politischen, vor allem der deutschlandpolitischen Debatten der vierziger und fünfziger Jahre ist von der Gegenwart unendlich weit entfernt. Abgesehen von den Spezialisten weiß niemand mehr, daß die CDU in Berlin eine „Reichszentrale“ hatte und in ihrem Ahlener Programm für die Sozialisierung der Schlüsselindustrien eintrat, daß ein Alfred Andersch scharf gegen die Reeducation polemisierte, daß Kommunisten die Hauptkritiker der Entnazifizierung waren und sich im Kampf für die nationale Einheit von niemandem überbieten lassen wollten, daß Marion Gräfin Dönhoff den Verlust der Ostgebiete für inakzeptabel hielt, die FDP ihre Plätze selbstbewußt auf dem rechten Flügel des Plenums einnahm und daß immerhin diskutiert worden war, die Abgeordneten des Bundestags in einer Barackensiedlung unterzubringen, um die Erinnerung an den Skandal der Teilung wachzuhalten. Nur ein paar emotional geladene Bilder vom Alltagsleben der „Eingeborenen von Trizonesien“ haben sich erhalten, sonst sind die Nachkriegsjahre beinahe ohne Rest aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden, weshalb eine Art Archäologie der Zeitgeschichte betreiben muß, wer unter dem Wiederaufbau die Reste des damals Vorgestellten, Gemeinten und Umstrittenen entdecken will.

Das hat nicht nur mit dem natürlichen Prozeß zu tun, der das Vergangene allmählich immer weiter zurücktreten läßt, sondern vor allem mit einer Transformation, die die deutsche Mentalität nachhaltig veränderte. Der Wandel setzte etwa zehn Jahre nach Kriegsende ein. Bis dahin hatte die Bundesrepublik nicht nur staatsrechtlich den Charakter eines Provisoriums, auch alle Zukunftserwartungen standen unter Vorbehalt, boten Raum für Spekulationen, phantastische oder nostalgische Erwartungen, bevor die Macht der Verhältnisse sich Geltung verschaffte.

Im Hinblick auf die kollektiven Leitideen bezeichnet das Jahr 1955 das Ende einer Phase, in der die Nation die entscheidende politische Bezugsgröße gebildet und die Kollektivziele – auch gefühlsmäßig – bestimmt hatte. Vom „Augusterlebnis“ 1914 bis zur erbitterten Auseinandersetzung um Sinn oder Unsinn bedingter Souveränität für den westdeutschen Teilstaat zieht sich eine Linie. Das gilt vor allem in bezug auf den Gedanken der „Volksgemeinschaft“ und die „antikapitalistische Sehnsucht“, von der Gregor Strasser 1932 gesprochen hatte, die aber schon im „Kriegssozialismus“ wirksam war, zur fatalen Anziehung des NS-Regimes beitrug, die Zukunftspläne des Widerstands nachhaltig bestimmte und 1945 dazu führte, daß die SPD rückhaltlos zu Marx und Planwirtschaft stand und die CDU für einen „christlichen Sozialismus“ plädierte.

Adenauers Politik der Westintegration mußte deshalb gegen massive Widerstände durchgesetzt werden. Es handelte sich um eine ebenso breite wie bunte Opposition. Die reichte von den „Potsdamdeutschen“ (Barbro Eberan), die an der preußischen Tradition zäh festhielten, bis zu den Linksprotestanten, von Preußisch-Konservativen, Stre­semann-Liberalen und versprengten Nationalbolschewisten bis zu den Sozialdemokraten; von Axel Springer, der eine Art privater Außenpolitik zwecks Ausgleich mit Moskau trieb, bis zu Rudolf Augstein, den Herausgeber des damals schon einflußreichen Spiegel.

Es waren dafür praktische Erwägungen von Bedeutung, auch die Sorge vor einem militanten Wiedervereinigungsnationalismus, aber es ging vor allem um Prinzipielles, um all die Traditionen, die dagegen sprachen, Deutschland, das Land der Mitte, einfach dem Westen zuzuschlagen. Augstein zitierte zur Charakterisierung der Lage gern ein Votum Walther Rathenaus, das dem Niemöllers recht nahe kam: „Zieht Preußen von Deutschland ab. Was bleibt? Der Rheinbund. Ein verlängertes Österreich. Eine klerikale Republik.“

Der „Klerikalismus“ gehörte zu den Schreckgespenstern der Linken, ernst nehmen mußte man das nicht. Der Wirklichkeit näher lag die Vorstellung von der Rheinbund-Republik, einem Gebilde, das vor allem Frankreichs alten Wünschen entsprach, an dem aber auch die USA und Großbritannien je länger, je mehr Gefallen finden konnten. Zuerst in London, dann in Washing­ton war man zu der Einschätzung gekommen, daß eine gemeinsame Verwaltung des besiegten Deutschland mit der Sowjetunion illusorisch sei. Also mußte es darum gehen, die besetzten Gebiete bestmöglich unter Kontrolle zu halten und soweit zu stabilisieren, daß sie nicht in den kommunistischen Machtbereich drifteten. Dazu brauchte man deutsches Personal. Die Sieger hatten anfangs durchaus Zweifel, ob es gelingen werde, das zu rekrutieren, mußte doch jeder, der zur Zusammenarbeit bereit war, Angst haben, als Kollaborateur zu gelten. Daß die Sorge im großen und ganzen unbegründet blieb, lag letztlich an der Totalität der deutschen Niederlage und der Totalität der alliierten Kontrolle.

Deren Zielsetzung verschob sich mehrfach durch die rasche Veränderung der politischen Situation, aber es gab einen Fixpunkt: die Sicherung der alliierten, vor allem der amerikanischen Interessen auf deutschem Boden. Dazu bediente man sich zunehmend weniger der direkten, eher der Möglichkeiten indirekter Einflußnahme. Bezeichnend ist dafür, wie schnell man nach 1945 die gröberen Methoden der „Umerziehung“ aufgab und westdeutsche Empfindlichkeiten einzukalkulieren lernte. Die Anstrengungen konzentrierten sich außerdem auf die jüngere Generation und jene Meinungseliten, die helfen sollten, die „intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“ (Clemens Albrecht) nachzuholen. Vielleicht sollte man besser von einer Umgründung sprechen, denn das, was zu Beginn als entscheidende Legitimation der neuen Ordnung angesehen wurde – die Funktion als deutscher Kernstaat –, trat allmählich immer weiter zurück, um der Idee von der Bundesrepublik als integralem Bestandteil der westlichen Gemeinschaft Platz zu machen.

Wie dieser Prozeß im einzelnen ablief, ist bisher nicht untersucht, aber eine Szene, die Caspar von Schrenck-Notzing überliefert hat, kann eine gewisse Vorstellung von der Wirksamkeit der Mechanismen geben. Schrenck-Notzing schilderte ein Gespräch, das er am Rande des Historikertags von 1962 mit einem der Professoren führte, die zu den einflußreichsten Vertretern der Zunft rechneten. Auf die Frage, wie sein Gegenüber die Chancen einschätze, zu einer sachgerechten Darstellung der Ursachen des Zweiten Weltkriegs zu kommen, antwortete der Professor entgeistert, davon könne gar keine Rede sein, denn das müßte die wichtigsten Nato-Partner, vor allem die Amerikaner, in ein schlechtes Licht setzen, und denen habe man schließlich Wiederaufbau und Schutz vor dem Kommunismus zu verdanken, – da müßten Opfer gebracht werden.

Dieser Hochschullehrer gehörte noch zur Kriegsgeneration und hatte als Offizier gedient, in seiner politischen Vergangenheit gab es den einen oder anderen heiklen Punkt, und wie so viele glaubte auch er 1945, daß alles vorbei sei. Entsprechend groß war die Dankbarkeit, als die Befürchtung grundlos war. Man lud den jungen Dozenten früh zu einem Besuch in die Staaten ein. Er kam skeptisch, hatte damit gerechnet, als Paria behandelt zu werden, und wurde wieder angenehm überrascht: von der Freundlichkeit, mit der man ihm begegnete, und überhaupt der Förderung, die ihm seine Gastgeber hier und nach der Rückkehr angedeihen ließen.

In der Bundesrepublik gehörte er zu den konservativen Fachvertretern, war Mitglied der CDU und trat in dieser Funktion auch an die Öffentlichkeit, übrigens mit dezidiert „nationalen“ Stellungnahmen. Er war kein Agent, aber er nahm Einfluß und trug ebenso zur „Verwestlichung“ der Bundesrepublik bei wie die jüngeren, die bei ihren Studienaufenthalten in Amerika am Ende der fünfziger oder zu Beginn der sechziger Jahre den Protest der Bürgerrechtsbewegung und der Neuen Linken kennenlernten, um dann diesen Import und einen Antiamerikanismus mit nach Hause zu bringen, der seinen amerikanischen Ursprung nie verleugnen konnte.

Es handelte sich im einen wie im anderen Fall um Anpassungsleistungen, die man biographisch erklären kann, die auch mit verständlicher Sympathie für die Initiatoren von Care-Paket und Luftbrücke zusammenhingen, mit der unbestreitbaren Bedrohung durch die Sowjetunion und der Attraktivität des westlichen im Vergleich zum östlichen Modell, und jenem appeal von Modernität und Weltoffenheit, dem sich nach dem Krieg kein Land der westlichen Hemisphäre entziehen konnte. Aber damit ist nicht alles gesagt, und es gerät leicht aus dem Blick, daß die langfristigen Folgen der westernization vor allem politische waren.

Das zeigte sich unbestreitbar im Zusammenhang der beiden großen Weichenstellungen der deutschen Nachkriegsjahrzehnte in den Jahren 1969 und 1989. Denn weder die faktische Anerkennung von Zweistaatlichkeit und der Verlust der Oder-Neiße-Gebiete noch der Zusammenbruch des DDR-Regimes führten in Deutschland zu einer Infragestellung der Westbindung. Eine nationalistische Opposition gegen die „Neue Ostpolitik“ der sozial-liberalen Koalition fand niemals stärkeren Rückhalt in der Bevölkerung, schon weil nicht erkennbar war, wie eine Alternative praktisch durchgesetzt werden konnte ohne Vabanquespiel oder die Gefahr, einen Krieg heraufzubeschwören.

CDU und CSU vertraten nur in einer kurzen Übergangsphase – solange die Stimmung der Bevölkerung nicht einzuschätzen war – eine ablehnende Haltung und begnügten sich zuletzt mit Stimmenthaltung, Formelkompromissen und der Wahrung des Rechtsstandpunktes. Daß dem überhaupt noch einmal Geltung verschafft werden könnte, glaubte auch in ihren Reihen nur eine Minderheit. Entsprechend groß war die Irritation, als nicht nur der Untergang des Kommunismus, sondern auch die staatliche Vereinigung des deutschen Restgebiets möglich wurde.

Obwohl in der Situation von 1989/90 die Neutralität eines gesamtdeutschen Staates alle Argumente für sich zu haben schien, setzte letztlich Helmut Kohls konsequentes Beharren die Westintegration durch. Was anfangs wie eine Reprise von Adenauers Haltung in bezug auf die Stalin-Note erschien, erwies sich letztlich als realpolitischer Akt, der auf einer sachgerechten Einschätzung der Handlungsmöglichkeiten beruhte.

Deshalb trog auch die Erwartung, daß Deutschland nach der Wiedervereinigung „ostelbischer“ (Jens Reich) oder „östlicher und protestantischer“ (Lothar de Maizière) werden könnte. Das war nicht nur aufgrund der Kräfteverhältnisse zwischen West und Ost unwahrscheinlich, sondern auch wegen des heftigen Wunschs der DDR-Bürger, zu BRD-Bürgern zu werden. Anfangs gab es rührende patriotische Nostalgien – Gaststätten „Zur Deutschen Eiche“ wurden eröffnet, und Erweiterte Oberschulen erinnerten sich voller Stolz des Namens „Königin-Luise-Gymnasium“ –,­ aber das waren Übergangsphänomene. In zügigem Tempo fand die Angleichung der Verhältnisse wenigstens auf diesem Gebiet statt. Westlich, westdeutsch war „postnationale“ Identität; die in der Zeit der Wende von den einen erhoffte, von den anderen gefürchtete Rückkehr der Geschichte blieb aus.

Der erste Historiker der neuen, der Berliner Republik, Heinrich August Winkler, hat 1999 seine Darstellung der beiden letzten Jahrhunderte unter dem Titel „Der lange Weg nach Westen“ veröffentlicht. Die Rezensenten übten nur im Detail Kritik, ansonsten hatte Winkler niedergelegt, was konsensfähig ist: daß die Wiedervereinigung ein unerwarteter und unverdienter Glücksfall für die „verspätete Nation“ war, der leider die „klassischen Revolutionen des Westens“ fehlten, was neben den Hypotheken Reichsidee, Reformation, Preußen den langen Irrweg erklärt, bevor die deutsche Geschichte an ihr Ziel kommen und – ganz undialektisch – im Westen aufgehoben werden konnte.

Der satt-zufriedene Ton, in dem Winkler dieses Ende schildert, ist typisch für die meinungsbildenden Kreise der westlichen Bundesrepublik, aber auch bezeichnend, daß sie sich überhaupt nur noch beunruhigt fühlen, wenn irgendwo die Erinnerung wach wird, daß man den Deutschen ihre Geschichte auch anders erzählen könnte. Geschichtspolitik ist Symbolpolitik und in Deutschland ein besonders heikles Feld. Nirgends scheint die Menge der geduldeten Lesarten so klein wie hier, die Menge der – auch gesetzlichen, strafbewehrten – Beschränkungen so groß. Das spricht gegen die Annahme, daß das historisch-korrekte Vorstellungsgefüge von selbst stehen und größeren Belastungen standhalten könnte, und für die Annahme, daß eine Freilegung des Vergessenen dramatische Auswirkungen haben würde.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker, Studienrat an einem Gymnasium in Göttingen und Spiritus rector des Instituts für Staatspolitik. Auf dem Forum schrieb er zuletztüber das Wesen des Geschenks (JF 52-08/1-09).

Foto: Kennedy-Rede in Berlin (West) 1963, Amerikahaus und US-amerikanischer Kulturexport (Elvis, Pop-Art, Swing, Cola): Die Anpassung an die neue Ordnung hing auch zusammen mit der unbestreitbaren Bedrohung durch die Sowjetunion und der Attraktivität des westlichen im Vergleich zum östlichen Modell und mit jenem appeal von Modernität und Weltoffenheit, dem sich nach dem Krieg kein Land der westlichen Hemisphäre entziehen konnte.

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