© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/09 17. April 2009

Treibjagd auf Abweichler
Freiheitsrechte: Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall herrscht in Deutschland ein Klima der Intoleranz
Erik Lehnert

Eine Frage scheint die Öffentlichkeit derzeit sehr zu beschäftigen: War die DDR ein Unrechtsstaat? Angestoßen wurde die Debatte durch eine Äußerung Erwin Sellerings, Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, der auf die Vorzüge der DDR zu sprechen kam und in ihr keinen „totalen“ Unrechtsstaat sehen will. Es habe zwar „ein Schuß Willkür und Abhängigkeit“ zu ihr gehört, aber die BRD sei ja auch nicht perfekt.

Kritik kam sowohl von den politischen Gegnern als auch ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern, die dem aus Westdeutschland stammenden Sellering absprachen, das beurteilen zu können. Wolfgang Thierse sprang seinem Parteigenossen dafür als „Ossi“ öffentlichkeitswirksam zur Seite: die DDR habe ihre „sympathischen Elemente“ gehabt. Zuletzt meldete sich Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle zu Wort und warnte vor der Verklärung der DDR.

Daß diese Frage nicht eindeutig beantwortet wird, spricht zunächst einmal für die Bundesrepublik und das hier geltende Recht der freien Meinungsäußerung. Wenigstens darüber können wir also noch streiten, ohne daß sich jemand ins politische Abseits stellt. Auf den zweiten Blick kommt hier ein Unbehagen am eigenen Staat zum Ausdruck, das sich seit der Wiedervereinigung verstärkt beobachten läßt. Vorher herrschte Kalter Krieg und in der Bundesrepublik Wohlstand für alle, und wer dort vom Kommunismus träumte, konnte sich von dessen Nachteilen bei einem Ausflug in die DDR überzeugen. Nur die wenigsten sind drüben geblieben. Seit der Wiedervereinigung macht der Begriff von der „DDR light“ die Runde, womit die zunehmende Beschränkung der Freiheit gemeint ist, die eben zu einer sanften DDR führen würde.

Wenn wir uns heute, bald zwanzig Jahre nach der Wende von 1989, umschauen, scheint sich diese Prognose bestätigt zu haben. Es herrscht ein Klima der Intoleranz, das dem Anspruch einer „offenen Gesellschaft“ offenbar widerspricht. So kann es im erweiterten Freundeskreis schon einmal zum Bruch kommen, wenn Ansichten rechts der Mitte geäußert werden. Zu Vereinsausschlüssen und dem damit verbundenen Verbot ehrenamtlicher Arbeit kann es kommen, wenn die Betreffenden einer falschen Partei angehören. Es wird versucht, einem Schornsteinfeger, der für die NPD im Kreistag sitzt, Berufsverbot zu erteilen. Liederbücher werden eingestampft, weil einigen Gesinnungswächtern ein bestimmtes Lied darin nicht paßt, und die Läden einer Bekleidungsmarke sind permanent Boykottaufrufen und Anschlägen ausgesetzt.

Nun könnte man dies alles für Einzelfälle halten. Und es handelt sich in der Tat nur um einen kleinen Kreis von Betroffenen. Doch gerade das macht den dahinter liegenden Mechanismus so gefährlich. Jede dieser Aktionen kommt aus der Mitte der Gesellschaft oder kann zumindest auf aktives oder passives Wohlwollen setzen. In der DDR war es der Staat, von dem das Unrecht ausging. In der BRD hat es seine Quelle im „zivilcouragierten“ Bürger. Der Philosoph Peter Sloterdijk stellte vor einiger Zeit fest, daß es „selbst in den aufgeklärten ‘Gesellschaften’ des heutigen Westens“ nicht an Beispielen dafür fehle, „wie die zivilreligiös engagierte totale Mitte zur Treibjagd auf einzelne Frevler gegen den liberalen Konsensus bläst – einer Jagd, die den sozialen Tod des Gejagten billigend in Kauf nimmt“. Er sieht in der Unduldsamkeit eine Parallele zur Verfolgung religiöser Abweichler im Mittelalter.

Welche Formen das annehmen kann, hat der letztjährige Antiislamisierungskongreß in Köln gezeigt. Der Staat war nicht bereit, das Recht auf Meinungsfreiheit durchzusetzen, was der Staatsrechtler Josef Isensee als „Rückzug des Rechtsstaates“ interpretierte. Die einzigen, die davor bislang Schutz bieten, sind die Gerichte. Ob es den rechten Liedermacher Frank Rennicke oder das Verbotsverfahren gegen die NPD betrifft, das Bundesverfassungsgericht hat in beiden Fällen dem zivilgesellschaftlichen Druck nicht nachgegeben. Untere Instanzen stehen dagegen nicht immer für unabhängige Rechtsprechung: Eva Herman wehrt sich weiterhin vergeblich gegen die Folgen der Rufmordkampagne. Und auf der gesellschaftlichen Ebene gelten längst andere Regeln: Martin Hohmann blieb aus der CDU ausgeschlossen, obwohl er juristisch nicht belangt werden konnte. Interessengruppen sorgen hier für den nötigen Druck und können auf treue Gefolgschaft bauen.

Aber auch die Bundesrichter können Recht nur nach Gesetzeslage sprechen. Und die Gesetze machen Parteien, die ihre staatspolitische Verantwortung zugunsten einer moralpolitischen Gesinnung aufgegeben haben. Die Tatsache, daß jemand für eine Meinungsäußerung und ein Propagandadelikt sechs Jahre ins Gefängnis muß, während Gewalttäter oftmals mit deutlich weniger rechnen dürfen, zeigt, daß die zivilreligiöse Gesellschaft den Staat okkupiert hat und der Staat nicht mehr in der Lage ist, zu entscheiden, was seine Bürger gefährdet. Notfalls wird der Staat von Gesinnungswächtern so lange moralisch bearbeitet bis er entsprechend handelt. Oder sind die hundert Mitglieder der Heimattreuen Deutschen Jugend eine Gefahr für Staat und Gesellschaft? Dürfen Jugendliche in ihrer Freizeit Gewalt und Pornographie konsumieren, aber nicht wissen, wie Deutschland in den Grenzen von 1937 aussah?

In unserem Land, in dem jeder das Wort Toleranz im Munde führt, herrscht ein Klima der Intoleranz. Auf allen Ebenen, der privaten, gesellschaftlichen und politischen, ist der Wille, abweichende Auffassungen zu tolerieren, im Schwinden. Eine Ursache ist die zunehmende Perspektivlosigkeit, die mittlerweile alle Bevölkerungsschichten betrifft. In unsicheren Zeiten wird der Ruf nach Sicherheit lauter und die Wertschätzung der Freiheit nimmt ab. Vielleicht erfreut sich die DDR deshalb in neueren Umfragen eines so guten Rufs, weil sich die Mentalität der Mitte in ihr wohlfühlen würde: antifaschistisch, materiell abgesichert und ideologisch gefestigt.                                

Foto: DDR-Flüchtlinge passieren am 19. August 1989 die ungarisch-österreichische Grenze; bundesdeutscher Grenzpfahl

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