© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/09 17. April 2009

„Der erste Riß in der Mauer“
Der Fall der Mauer begann im Frühling 1989 in Ungarn – Eine fast vergessene Heldengeschichte
Moritz Schwarz / Jörg Fischer

Herr Professor Oplatka, zum 20. Jubiläum des Mauerfalls denkt man im Westen an den 9. November in Berlin. Dabei begann alles viel früher, nämlich Anfang 1989 in Ungarn.

Oplatka: Leider ist das vielfach in Vergessenheit geraten, aber ich hoffe, dies durch mein neues Buch „Der erste Riß in der Mauer“ zumindest ein wenig korrigieren zu können.

Was ist der Grund für dieses Vergessen?

Oplatka: Natürlich liegt es in der Natur des Menschen, zu vergessen, zumal bei der heutigen Informationsflut. Aber es ist für die Osteuropäer schon ein Problem, daß der Westen heute die kollektive Erinnerung unseres gemeinsamen Europa dominiert. Der Westen aber hat weder die Schrecken des Kommunismus noch das Wunder der Wende 1989 selbst erlebt. Das historische Trauma Westeuropas sind Nationalsozialismus, Holocaust und Zweiter Weltkrieg. Und es ist für viele Westeuropäer schwer nachzuvollziehen, daß für Osteuropäer das Trauma des Kommunismus zeitlich näher ist und darum mitunter schwerer wiegt. In Deutschland oder hier in der Schweiz zum Beispiel dominieren in den zeithistorischen Abteilungen der Buchläden Bücher über die Epoche des Dritten Reiches – natürlich völlig berechtigt und verständlich, denn nach westlicher Denkweise sind diese Themen immer noch aktuell. Das Thema Kommunismus dagegen ist wesentlich schwächer repräsentiert. Das wiederum ist etwas, was bei den Ostmitteleuropäern Unverständnis hervorruft.

Wie tief reicht dieses Unverständnis?

Oplatka: Tiefer als man sich dessen im Westen bewußt ist. Doch von Polen bis Bulgarien gibt es schon eine gewisse Ernüchterung darüber, daß die Westeuropäer die historischen Sorgen der Osteuropäer nicht verstehen. Schlimmer noch: Auch zwanzig Jahre nach der Wende werden die Verbrechen des Kommunismus in Westeuropa verdächtig oft als eine Art Kavaliersdelikt betrachtet.

Was meinen Sie mit „verdächtig oft“?

Oplatka: Daß diese Ansicht nicht nur oberflächliche Haltung ist, sondern zum Teil tief in die politischen Überzeugungen hineinreicht, mitunter den politischen Alltag in Westeuropa prägt. Das führt auch dazu, daß sich die Beurteilung Ostmitteleuropas heute – so in der westlichen Presse – an Prämissen orientiert, die der Wirklichkeit und der Erinnerungskultur dort nicht gerecht werden.

Die Schrecken des Kommunismus werden in unserem historischen Gedächtnis also durch die westliche NS-Erinnerung relativiert?

Oplatka: Lassen Sie mich vorab betonen, daß es zum Thema Zweiter Weltkrieg, Nationalsozialismus und vor allem zum Holocaust nur eine Meinung geben kann: Auf keinen Fall möchte ich den Anschein erwecken, irgendetwas zu relativieren! Aber die oft in Westeuropa anzutreffende Meinung, so schlimm sei es im Kommunismus doch wohl nicht gewesen, gesellt sich zu der irrigen, aber hier weit verbreiteten Ansicht, der Kommunismus habe es ja „eigentlich gut gemeint“, sei an sich eine edle Idee gewesen.

Was war er tatsächlich?

Oplatka: Eine ideologisch begründete Herrschaftsmethode, die das Individuum und das Menschenleben genauso verachtet, als Verfügungsobjekt und lediglich als Mittel betrachtet hat wie der Nationalsozialismus – und die ebensowenig wie dieser vor Massenmord zurückschreckte.

Man könnte erwarten, daß dem Bürgertum – als traditionellem Träger des Antikommunismus in Westeuropa – die Aufgabe zufällt, als Anwalt und Vermittler der osteuropäischen Kommunismus-Erfahrungen im Westen zu fungieren. Warum wird es dieser Aufgabe nicht gerecht?

Oplatka: Ich glaube, dieses Urteil ginge zu weit. Gesellschaftliche Schichten handeln nach ihren Interessen. Nachträglich für historische Gerechtigkeit im Falle von anderen Nationen einzustehen – wer das von ihnen fordern wollte, der ginge von falschen Prämissen aus. Doch es ist wahr: Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gab es eine breite wissenschaftliche Diskussion darüber, warum die Eliten und Fachleute im Westen diesen Zusammenbruch nicht vorausgesehen haben. Als eine der Antworten darauf stellte sich heraus: Weil vor allem seit 1968 auch bürgerliche Kreise und Politiker Angst davor hatten, als „Reaktionäre“ und „Kalte Krieger“ abgestempelt zu werden, wenn sie eine klare antikommunistische Meinung aussprechen würden. Außerdem hatten sich manche zunehmend mit dem Kommunismus arrangiert, um ungestört Geschäfte in den Ostblockstaaten machen zu können. Schließlich begann man gar, den eigenen Beschwichtigungen zu glauben: Denken Sie etwa an die angeblich so beachtliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR oder die vermutete gewisse Zustimmung der Völker der Ostblockstaaten zu den gesellschaftlich-politischen Systemen der kommunistischen Länder. Man muß klar feststellen: Es gab leider recht viel Appeasement.

 „Der erste Riß in der Mauer“ zeigte sich im Mai 1989 in Ungarn. Warum gerade dort und nicht in einem anderen Ostblockland?

Oplatka: Die Ursache dafür finden Sie lange vor dem Jahr 1989: Bekanntlich gab es auch in Polen, der DDR und der Tschechoslowakei Aufstände bzw. Widerstand gegen den Kommunismus, aber Ungarn ist das einzige Land des Ostblocks, das eine blutige, bewaffnete Revolution mit Tausenden von Toten auf beiden Seiten vorzuweisen hat. Die Rede ist natürlich vom Volksaufstand 1956. Dieser entschlossene Widerstand war eine Sprache, die bei den Herrschenden in Moskau nachweislich Eindruck gemacht hat. Dagegen wurde zum Beispiel der für unsere Begriffe vorbildliche zivilgesellschaftliche Widerstand der Tschechen und Slowaken 1968 in Moskau nur als Zeichen der Schwäche gewertet. Nach einer Periode der Vergeltung mit Hunderten von vollstreckten Todesurteilen und Zehntausenden von Kerkerstrafen folgte deshalb in Ungarn eine Zeit der Zugeständnisse, weil man eine erneute Zuspitzung der Unzufriedenheit verhindern wollte. So brach die Zeit der vielen kleinen Freiheiten des Gulaschkommunismus an.

War nicht entscheidend, daß Ungarn 1989 das einzige kommunistische Land war, in dem die Reformen – wie in der Sowjetunion Gorbatschows – „von oben“ kamen?

Oplatka: Das ist nur teilweise richtig. Denn seit Anfang der achtziger Jahre meldete sich eine intellektuelle Opposition zu Wort, die dann mit dem Rückenwind der Perestroika in Moskau immer stärker wurde. Etwa 1986/87 gelangte ein Politbüro-Protokoll in den Westen, das den ungarischen Parteichef János Kádár mit der Äußerung zitierte, es gebe bereits eine starke antisozialistische Widerstandsbewegung im Land, die sogar schon über eine eigene Untergrundpresse verfüge und gegen die man leider nicht mehr mit Polizeigewalt vorgehen könne, da der Westen die Behandlung dieser Leute genau beobachte. Da aber Ungarn im Westen stark verschuldet sei, könne man es sich nicht leisten, gegen die Dissidenten „administrative Maßnahmen“ zu ergreifen. Es gab also kein Zurück mehr, nur noch die Flucht nach vorn. So übernahm Ungarn 1989 schließlich zusammen mit Polen eine Vorreiterrolle. Ministerpräsident Miklós Németh, der letzte Regierungschef vor der Wende, wollte bereits keine Systemreform mehr, sondern einen Systemwechsel.

Also war die nationale Entwicklung eines ungarischen Weges Voraussetzung für das Entstehen dieser Schwachstelle im Eisernen Vorhang. Welche Rolle hat das Nationale für den Sturz des Kommunismus 1989 gespielt?

Oplatka: Eine interessante Frage, die erstaunlicherweise bis heute wenig erforscht ist. Tatsächlich hat es nämlich einen „Ostblock“ im eigentlichen Sinne nur bis 1953, dem Todesjahr Stalins, gegeben. Danach gingen die Wege der zuvor kommunistisch gleichgeschalteten „Bruderstaaten“ wieder entsprechend den nationalen Traditionen und Temperamenten auseinander. Man kann feststellen, daß das Nationalbewußtsein, die andersgeartete Kulturgeschichte allgemein, eine konsequente Sowjetisierung Ostmitteleuropas verhindert hat. Der kollektivistische Geist aus der UdSSR konnte dort nicht heimisch werden. Und auch mit Blick auf den Fall der Mauer war das nationale Bewußtsein schließlich von erheblicher, weil von ganz konkreter Bedeutung. Im Namen welcher Idee hat die Grenzöffnung 1989 stattgefunden? Wohl doch im Interesse der Nation, denn um einen Machterhalt ging es 1989 zumindest in Ungarn schon nicht mehr.

Wenn das Nationale diesen Anteil am Kampf für die Freiheit in Europa hat, warum wird es dafür heute in Europa nicht gewürdigt, sondern gilt vielfach gar fast als verpönt?

Oplatka: Weil es nach 1989 in zahlreichen Ländern wie in Polen – denken Sie etwa an die Kaczyński-Brüder – der Slowakei, Rumänien und leider auch in Ungarn zu nationalistischen Phänomenen gekommen ist – auf die ich, um ehrlich zu sein, persönlich nur zu gerne verzichten würde.

Spielt da nicht erneut die kulturelle Dominanz des von den Jahren 1945 und 1968 geprägten Westeuropa und das westliche Mißtrauen gegenüber dem Nationalen eine Rolle?

Oplatka: Doch. Aber man muß auch die Phasenverschiebung sehen. Die Westeuropäer hatten nach 1945 mehrere Jahrzehnte zur Verfügung, um die Vergangenheit, wie man so sagt, „aufzuarbeiten“ und ihre nationalen Gegensätze in der Integration beizulegen. Der gleiche Prozeß konnte in Ostmitteleuropa erst 1990 beginnen.

Sie haben von einer „Vorreiterrolle Polens“ gesprochen. Seit 1981 sah es so aus, als würde wenn überhaupt, dann in Polen der Dammbruch erfolgen. Warum haben statt der Ungarn nicht die Polen diese Hoffnung erfüllt?

Oplatka: Sie haben sie erfüllt. Die Solidarność überlebte im Untergrund, die Herrschenden mußten sie schließlich doch anerkennen und Gespräche am Runden Tisch akzeptieren. Die „Solidarität“ erzwang als erste Bewegung in Osteuropa schon im Juni 1989 zumindest partiell freie Wahlen, gewann sie haushoch und stellte mit Tadeusz Mazowiecki ab Ende August den ersten nichtkommunistischen Regierungschef im Ostblock. Die Pionierrolle gehörte 1989 den Polen ebenso wie den Ungarn.

Aber trotz des Machtwechsels hat Polen die Grenzen für die DDR-Bürger nicht geöffnet!

Oplatka: Die hätte sie ja nur in Richtung Schweden öffnen können. Doch man muß sich die Situation vergegenwärtigen: Eine erste nichtkommunistische, noch gebrechliche Regierung wird gebildet, aber Polen ist Mitglied im Warschauer Pakt, sieht sich immer noch eingezwängt zwischen der linientreuen DDR und der Sowjetunion, von der man nicht weiß, wie sie auf Provokationen in ihrem Machtbereich reagieren wird. Angesichts dieser Lage muß man verstehen, daß das Verhalten gegenüber den DDR-Flüchtlingen in Polen nicht das Maß aller Dinge war.

Die deutschen Flüchtlinge berichteten fast durchweg von der großen persönlichen Deutschfreundlichkeit der Ungarn, die es in Polen oder der Tschechoslowakei nicht gegeben hat.

Oplatka: Das Verhältnis zwischen Polen und der ČSSR auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite war durch die Folgen des Zweiten Weltkriegs viel stärker belastet. Auch Ungarn, widerwilliger Verbündeter des Dritten Reichs, wurde im März 1944 von der Wehrmacht besetzt, aber es gab in der Nachkriegszeit, anders als im polnischen Fall, keine störenden Territorialfragen. Während der erwähnten Periode des Gulaschkommunismus war dann Ungarn im Sommer jeweils der Treffpunkt von zerrissenen west- und ostdeutschen Familien. Viele DDR-Deutsche reisten auch sonst sehr gern nach Ungarn, weil es für sie ein vergleichsweise freies Land war. Mir haben deutsche Kollegen aus der DDR 1985 an einem Übersetzerkongreß etwa gesagt: „Wir kommen nach Ungarn, um frei zu atmen!“

In Deutschland gilt der damalige ungarische Außenminister Gyula Horn als der Öffner der Mauer. Sie sagen in Ihrem Buch, das sei ein Mythos der Deutschen.

Oplatka: Horn hat sogar erst relativ spät seinen Widerstand gegen die Grenzöffnung aufgegeben. Wie kam es, daß er in Deutschland dennoch als „der“ Grenzöffner galt und gilt und dafür im Laufe der Zeit alle Ehren-Auszeichnungen bekommen hat, die Deutschland zu vergeben hat? Die Ursache dafür ist die Macht des Fernsehens. Horn hatte zwei große TV-Auftritte: Einmal das Zerschneiden der Sperrdrähte zusammen mit dem österreichischen Außenminister Alois Mock Ende Juni 1989. Übrigens zu einem Zeitpunkt, als das de facto keine Bedeutung mehr hatte, weil es die Grenzsperren kaum mehr gab. Das zweite war die Verkündung der Grenzöffnung am Abend des 10. September. Doch tatsächlich hatte Németh diesen Auftritt Horn auf dessen Bitte hin überlassen. Damit fixierte sich im Gedächtnis der Deutschen – vor allem der deutschen Flüchtlinge – Horn als Held der Grenzöffnung.

Dabei hatte Horn schon 1956 als junger Mann aktiv auf seiten der kommunistischen Niederschlagung des Ungarnaufstandes gestanden, was in Deutschland nach 1989 verdrängt wurde.

Oplatka: Horns Rolle 1956 ist sehr umstritten. Tatsache ist, daß er bis zuletzt, bis zur Wende, sehr gute amtliche und private Kontakte zu Sowjet-Stellen unterhielt. Er galt als der Mann, der bei einem Scheitern der Grenzöffnung am besten rückversichert gewesen wäre. Zugleich ist aber, dies muß man anerkennen, sein Beitrag zur diplomatischen Vorbereitung des Schritts bedeutend.

Wer ist also der wahre ungarische Held?

Oplatka: Ungarn selbst. Denn die Öffnung der Grenze war eine kollektive Leistung des Landes. Sie war eine Tat der Regierung Németh, die sich von der Staatspartei MSZMP unabhängig gemacht hatte. Doch auch eine Tat der Opposition und der ungarischen Gesellschaft allgemein. Im Sommer 1989 herrschte nämlich in Ungarn bereits eine politische Atmosphäre, in der niemand mehr daran denken konnte, der Forderung der DDR nachzugeben und die Flüchtlinge – womöglich gar mit Gewalt – in ihr Ursprungsland zurückzuschaffen.

 

Prof. Dr. Andreas Oplatka: Der ungarisch-schweizerische Historiker und Journalist ruft mit seinem soeben erschienenen Buch „Der erste Riß in der Mauer. Ungarn öffnet die Grenze“ (siehe Rezension Seite 15) die fast vergessene Rolle des Landes beim Fall der Mauer, dem folgenden Untergang der DDR und dem Sturz des Kommunismus in Europa 1989 in Erinnerung. 1942 in Budapest geboren, kam Oplatka nach dem Volksaufstand von 1956 in die Schweiz, wurde später außenpolitischer Redakteur und schließlich Ungarn-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung. Heute lehrt er an der deutschsprachigen Andrássy-Universität (AUB) in Budapest.

 

„Der erste Riß in der Mauer“: Ungarns Abbau der hochgesicherten Grenzanlagen Richtung Westen  ab Frühjahr 1989 und die endgültige Grenzöffnung am 11. September 1989 ermöglichten erstmals seit 1961 wieder eine Massenflucht aus der DDR, die – zusammen mit den Zügen von Botschaftsflüchtlingen aus Prag, den Leipziger Montagsdemonstrationen und der tschechischen Grenzöffnung am 4. November – zum Fall der Mauer in Berlin am 9. November, zum Sturz der SED-Diktatur und zur deutschen Einheit führten (siehe Hintergrund Seite 10). Obwohl Ungarn im Frühling 1989 noch formell kommunistisch regiert war, hatte sich das Land mit – damals wie heute – international viel zu wenig gewürdigtem Mut innenpolitisch bereits am weitesten vom sogenannten Ostblock abgenabelt. Im Gegensatz zu 1956 führte der damals noch hochriskante ungarische Vorstoß nicht zu einem erneuten Blutbad, sondern in die Freiheit.

Foto: Ungarns Außenminister Gyula Horn (r.) und sein Wiener Kollege Alois Mock (l.) durchtrennen am 27. Juni 1989 bei Ödenburg (Sopron) den Eisernen Vorhang: „Horn war nicht der Grenzöffner, das ist ein Mythos der Deutschen“

 

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