© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/09 24. April 2009

Es lebe die Zeitung!
Medien: Wie das Internet die sozialen Beziehungen und die Mediennutzung revolutioniert
Dieter Stein

Halten Sie kurz inne. Prägen Sie sich diesen Moment ein. Halten Sie das Zeitungspapier an Ihre Nase. Riechen Sie die Druckerschwärze? Ein unvergeßlicher Geruch. Knistern Sie mit dem Papier. Blättern Sie um. Wenn Sie das Jahr 2020 erleben, können Sie Ihren Kindern und Enkeln von diesem Moment erzählen. Sie können ihnen schildern, wie es war –  damals, als Sie Zeitung lasen. Denn Ihre Kinder und Enkel werden nicht mehr wissen, was das ist – eine Zeitung.

So sieht jedenfalls die Vision der Internet-Propheten aus. Sascha Lobo ist einer dieser Netz-Gurus, Prediger einer „digitalen Bohème“, der das nahende Ende der klassischen Zeitung weissagt: „Die Tageszeitung wird das Medium sein, das als erstes stirbt.“ Denn im Kampf um tagesaktuelle Nachrichten unterliege die Papierzeitung dem Internet. In den USA ist das Zeitungssterben bereits in vollem Gange, San Francisco könnte die erste große Stadt ohne Tageszeitung werden.

Schon länger trägt Eulen nach Athen, wer feststellt, daß die Etablierung des rechnergestützten weltweiten Datennetzes (WorldWideWeb) der technischen Sprengkraft gleichkommt, die die Erfindung des modernen Buchdrucks durch Johannes Gutenberg im 15. Jahrhundert bedeutete. Während sich die Wirkung der modernen Druckkunst aber erst im Laufe von Jahrhunderten entfaltete, breitet sich diejenige des Internet regelrecht explosionsartig aus. Die weltweit gleichzeitige Verfügbarkeit von Milliarden Internetseiten, die Verbreitung von Nachrichten in Sekundenbruchteilen – ob auf dem Computerbildschirm oder Mobiltelefon –, sie ist Sinnbild für eine technisch total erschlossene Welt.

Die kulturkritische Reserve gegenüber dem technischen Fortschritt ist nicht neu und hat Gründe. Wie die Öffnung der Büchse der Pandora setzen die galoppierenden technischen Neuerungen Hoffnungen und Ängste im Wechsel frei: Die Entwicklung elektrischer Telegrafenleitungen revolutionierte nicht nur zivile Fernverbindungen, überwand friedlich Grenzen zwischen Nationen und Kontinenten, sondern sorgte auch im Ersten Weltkrieg für eine völlig neue Form der Gefechtsführung, bei der Artilleriefeuer über viele Kilometer Entfernung von der Front entfernt präzise gesteuert werden konnte.

Die Technik als mephistophelischer „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Und umgekehrt? Die Weltkriege führten den Menschen schockartig vor Augen, welche neuen tödlichen Zonen durch die Revolution der Technik beschritten werden konnten. Fortschrittsbegeisterung traf jetzt angesichts der sichtbar werdenden Folgen, nämlich des Vernichtungspotentials, der Naturzerstörung und Verstädterung, auf wachsende Fortschrittsskepsis.

Autoren wie George Orwell oder Aldous Huxley haben früh beschrieben, welche gespenstisch-totalitären Züge die Gesellschaften der Zukunft dank neuer Technologien annehmen werden. Die Vorstellung von einer totalen elektronischen Überwachung spielt hierbei eine maßgebliche Rolle. In Orwells Roman „1984“ verdichtet sich dies zur bekannten Vision des „Big Brother“-Staates, der seine Bürger bis ins Schlafzimmer mittels Videoüberwachung kontrolliert.

Indes hätte Orwell nicht zu träumen gewagt, daß im Zuge der Internet-Revolution die Beobachtung der Bürger nicht unter Zwang erfolgt. Der Weg in die totale Überwachung wird freiwillig und mit Freude beschritten. Getrieben von Neugier und großem Mitteilungsbedürfnis offenbaren Millionen von Menschen privateste Informationen in Internet-Netzwerken, deren Titulierung als „sozial“ oft das Gegenteil bedeutet. Die über Google dauerhaft erreichbaren Informationen können das Internet für Betroffene in einen Alptraum verwandeln Über identifizierbare „IP“-Adressen lassen sich die Spuren jedes Computer-Nutzers im weltweiten Datennetz verfolgen und durch „Vorratsdatenspeicherung“ die Bewegungen von „Gefährdern“ auch Monate zurück protokollieren und nachvollziehen.

Das Internet bietet zweifellos Chancen für neue Formen der Interaktion, der politischen Mitwirkung und freien Meinungsäußerung, aber auch die Potenzierung von Unrat und Zersetzung. Was früher nur auf sinistrem Samisdat-Weg verbreitet werden konnte, ist nun per Mausklick für Milliarden-Nutzer aus dem Wohnzimmer verfügbar: von schändlicher Kinderpornographie bis zur Bauanleitung für „schmutzige Bomben“. Über Internet-Foren organisiert sich nicht nur die Spaßguerilla in spontihaften Blitz-Demos („Flashmobs“) wie Anfang des Monats, als sich Hunderte junge Leute über StudiVZ zu einer riesigen Kissenschlacht vor dem Kölner Dom verabredeten, sondern auch Terrorgruppen nutzen das Internet als Basis zur Mobilisierung. Die „totale Mobilmachung“ ist da, wenn fast jeder Erdenbürger über ein Internet-Mobiltelefon jederzeit online ist. 

Soll man sich dieser Entwicklung entgegenstellen? „Es gibt hier kein Zurück, es gibt nur ein Hindurch“, schrieb in seinem fortschrittsskeptischen Werk „Perfektion der Technik“ Friedrich Georg Jünger vor 70 Jahren. Der geistige Mensch sei aber gefordert, „mehr als ein bloßes Zahnrad oder eine Schraube innerhalb einer riesenhaften Maschinerie zu sein“. Wir sind also gezwungen, Internet und neue Medien zu beherrschen, bevor es umgekehrt passiert.

Wird die Zeitung auf Papier dennoch überleben? Sie wird es. Nachrichten im Takt der Stunde und des Tages werden ihre Verbreitung schon bald fast nur noch auf elektronischem Wege finden. Parallel dazu gibt es aber einen wachsenden Bedarf an hintergründiger Nachbereitung und geistreicher Reflexion. Dies ist die Aufgabe von Wochen- und Monatszeitungen. Das Lesen dieser Blätter auf Papier wird von den Menschen als Erholung von der permanenten elektronischen Reizüberflutung empfunden werden. Wer ist der Pfadfinder im Dickicht des Info-Dschungels? Wo sind die Leuchttürme, die Orientierung geben? Im Netz und gedruckt: Die Zeitung hat also Zukunft.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen