© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/09 24. April 2009

Protokolle der Angst
Beweis, daß es ihn gibt: Christoph Schlingensiefs Tagebuch einer Krebserkrankung
Jens Knorr

Er hätte seine Freude gehabt an den Bildjournalisten, die den immer kleiner werdenden Bücherstapel im Foyer des Berliner Praters, der Neben- und während der Rekonstruktion Hauptspielstätte der Berliner Volksbühne, um- und umgruppierten, um doch noch Bildern von der Zielperson habhaft zu werden, die von den Schutzumschlägen in vielfacher Ausfertigung ernst zurückblickt.

Am Montag in der Sendung „Beckmann“ noch in guter Verfassung, hatte Christoph Schlingensief in der Nacht einen Fieberschub erlitten. Die Vorstellung seines Tagebuchs einer Krebserkrankung „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“ übernahmen am Dienstagmorgen Verleger Helge Malchow und Lektorin Stephanie Kratz von Kiepenheuer & Witsch, Köln.

Er hat Filme gemacht, Theater und Oper, Performances und Aktionen, er hat die Partei „Chance 2000“ gegründet, er hat wundervolle, unwiederbringliche Kunstmomente abgeschossen und grauenhafte Flops gelandet. Anfang Januar 2008 wird Lungenkrebs diagnostiziert, ein Lungenflügel entfernt, Chemotherapie und Bestrahlungen folgen. Die Angst ist bei Christoph Schlingensief gelandet, und er hat das Kreuz auf sich genommen, sie zu besprechen, das Diktaphon fast immer eingeschaltet, mit sich selbst, mit Freunden, seinem toten Vater – und mit seinem Gott. Drei umfangreiche Aktenordner verschriftlichter Tonprotokolle sind in Form gebracht, Redundanzen beseitigt, ohne den Sprachduktus zu zerstören. Der Leser hört, wenn er liest, Schlingensiefs Stimme. Das Buch ist kein Krebsratgeber, ein glückliches Ende wird es nicht geben.

Er will seine Verlobte heiraten. Er möchte noch fünfunddreißig Mal Weihnachten feiern. Sein Fluxus-Oratorium auf der Ruhrtriennale „Eine Kirche der Angst“ wird Anfang Mai das Berliner Theatertreffen eröffnen. Und überhaupt will soviel, was die Muse streng geteilt, von Christoph Schlingensief zusammengezaubert werden. Er hat einfach keinen Bock auf Himmel. Sein Gott braucht ihn noch hier!

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