© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/09 15. Mai 2009

Nationale Staatlichkeit Deutschlands und Lissabon-Vertrag
Deutsches Volk nicht mehr Subjekt
von Ulrich Penski

Das Grundgesetz wird in diesem Jahr 60 Jahre alt und erwartet aus diesem Anlaß feierliche Würdigungen. Es wird auch eine Gedenkmünze in Silber „60 Jahre Deutschland 1949 – 2009“ herausgegeben. Gleichzeitig wird in Deutschland der Vertrag von Lissabon über die grundlegende Reform der Europäischen Union (Reformvertrag) aufgrund von Verfassungsbeschwerden einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterzogen. Es geht dabei um die Frage der Verletzung unabänderlicher Prinzipien des Grundgesetzes und letztlich darum, ob das Grundgesetz durch diesen Vertrag nicht schon seine Ablösung findet. Natürlich soll das Grundgesetz auch nach einem Inkrafttreten des Vertrages bestehenbleiben. Doch wird es dann nicht in wesentlichen Bestandteilen so ausgehöhlt sein, daß von einer Selbständigkeit der Bundesrepublik Deutschland als Staat nach dem Grundgesetz kaum noch die Rede sein kann?

In seiner Entscheidung über die Errichtung der Währungsunion vom 12. Oktober 1993 (Maastricht-Urteil) hat das Bundesverfassungsgericht diese Frage mit ausdrücklich einschränkender Auslegung des Vertrages von Maastricht noch bejaht. Ob es sie auch in bezug auf den Vertrag von Lissabon wird bejahen können, ist nicht sicher. Es wäre schon ein bemerkenswertes historisches Zusammentreffen, wenn das Grundgesetz im Jahre seiner 60jährigen Geltung zumindest inhaltlich zugunsten einer staatsartigen Europäischen Union völkervertraglich abgelöst würde. Das Gedenken mit der Silbermünze bekäme dann eine ganz hintersinnige Bedeutung.

Die entscheidende Frage ist, ob und inwieweit die nationale Staatlichkeit der Bundesrepublik bei Inkrafttreten des Reformvertrages noch erhalten bleibt oder eben zugunsten einer Europäischen Union mit staatsartigem Charakter aufgegeben wird. Sie wird am Maßstab des Grundsatzes der Demokratie zu beantworten sein. Er ist grundlegend in Artikel 20 Absatz 2 Grundgesetz niedergelegt und bestimmt, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Artikel 79 Absatz 3 GG entzieht ihn der Verfassungsänderung.

Vor dem Bundesverfassungsgericht hat im Februar dieses Jahres die Bundesregierung die von den Beschwerdeführern gerügte Verletzung des Grundsatzes der Demokratie mit der Auffassung verneint, der Reformvertrag stärke eher die Demokratie, als daß er sie beschränke. Das ist neben anderem mit dem Hinweis erfolgt, daß die Entscheidungsrechte des Europäischen Parlaments, das schließlich von den Bürgern der Union gewählt werde, als „Mitgesetzgeber“ durch den Reformvertrag erweitert würden. Auch werde die Beteiligung von Bundestag und Bundesrat beim Erlaß europäischer Regelungen gestärkt. Mit dieser Argumentation könnte man allerdings noch mehr Kompetenzen auf die Union übertragen, wenn man gleichzeitig auch die Mitentscheidungsrechte für das Europäische Parlament vermehrte und die Beteiligung der deutschen Volksvertretung vielleicht ausweitete. Diese Argumentation geht von einem unannehmbaren Verständnis des Grundsatzes der Demokratie im Grundgesetz aus.

Mit diesem Grundsatz hat das deutsche Volk im Sinne der Präambel des Grundgesetzes als verfassunggebende Gewalt für seinen Staat festgelegt, daß dieser demokratisch legitimiert und organisiert sein soll. Das deutsche Volk bestimmt sich als Träger der Staatsgewalt des Staates Bundesrepublik Deutschland. Demokratische Staatlichkeit ist ein reflexiver Sachverhalt, der vielfach – wenn auch verkürzt – in der Weise ausgedrückt wird, daß das Volk als Subjekt der Staatsgewalt gleichzeitig auch deren Objekt ist. Als Subjekt des Staates ist es in seiner historisch-politischen Gestalt gemeint.

So verstanden, wird der Grundsatz der Demokratie beeinträchtigt, wenn in bezug auf die Mitglieder des deutschen Volkes eine öffentliche Gewalt errichtet wird, bei der das deutsche Volk nicht mehr als maßgebendes Subjekt dieser Gewalt angesehen werden kann! Es ist eine Frage des Inhalts und Umfangs der von ihm hergeleiteten Staatsgewalt.

Als Subjekt dieser Gewalt könnte es auch nicht angesehen werden, wenn es nur mit anderen Völkern an der Bildung und Ausübung staatlicher Gewalt beteiligt wäre. Auch der in der Präambel des Grundgesetzes ausgedrückte Wille, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden zu dienen“, geht von niemandem anderen als vom deutschen Volk als Subjekt eines selbständigen Staates aus.

Es kommt nicht auf die Demokratisierung der Union an, insbesondere nicht auf die Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments. Denn eine echte Demokratisierung der EU läßt sich nur denken auf der Grundlage eines europäischen Staatsvolks, das in Wahlen und Abstimmungen über allgemeine europäische Regelungen entscheidet. Ein solches Staatsvolk besteht jedoch offensichtlich noch nicht. Wenn es aber zu seiner Bildung käme, würde das die Ablösung des deutschen Volkes – wie übrigens auch anderer europäischer Staatsvölker – als Träger eines selbständigen Staates bedeuten. Eine solche eigentliche Demokratisierung der EU würde deshalb gerade gegen den Grundsatz der Demokratie im Sinne des Grundgesetzes verstoßen.

Diesem Grundsatz zufolge genügt es nicht, daß nur die EU hinreichend demokratisch organisiert ist – er verlangt zunächst, daß die öffentliche Gewalt, der sich das deutsche Volk unterstellt, in entscheidendem Maße und Umfang von ihm selbst ausgeht. Es geht in ihm grundsätzlich um die Wahrung der Subjektstellung des deutschen Volkes in bezug auf die seinen Angehörigen gegenüber ausgeübte Staatsgewalt. Die EU muß deshalb im Umfang ihrer Kompetenzen so begrenzt sein und bleiben, daß dem Bundestag als Volksvertretung in erheblichem Maße und Umfang Kompetenzen erhalten bleiben. So spricht das Bundesverfassungsgericht schon in seinem Maastricht-Urteil von einem „Übergewicht an Aufgaben und Befugnissen“. Bloße demokratische Strukturkongruenz der Union genügt nicht.

Erst in einem weiteren Sinne verlangt der Grundsatz der Demokratie, daß dann, wenn und soweit staatliche Aufgaben und Befugnisse unter Wahrung des „Übergewichts an Aufgaben und Befugnissen“ im nationalen Bereich auf die Union übertragen werden, auch diese Aufgaben und Befugnisse demokratisch legitimiert sein müssen. In diesem weiteren Sinne ist Artikel 23 Absatz 1 des Grundgesetzes zu verstehen, daß die EU dem Grundsatz der Demokratie verpflichtet ist. Er enthält insofern auch schwächere Anforderungen. Hier genügen Formen mittelbarer oder abgeschwächter demokratischer Legitimation, in dem Sinne, daß die Entscheidungen der Union auf die Mitwirkung der Bundesregierung und den Bundestag als vom deutschen Volk legitimierte Organe zurückzuführen sind.

Abgeschwächte demokratische Legitimation vermittelt das Europäische Parlament: Es ist zwar unmittelbar von den Bürgern der Union gewählt – wenn auch jeweils gegliedert nach den Völkern der Mitgliedstaaten –, aber die Zahl der Vertreter der einzelnen Mitgliedsstaaten entspricht nicht dem genauen Verhältnis der Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten.

Der Reformvertrag von Lissabon geht nun den Weg zu mehr Aufgaben und Befugnissen für die EU, vor allem in Kernbereichen staatlicher Aufgaben wie der Sicherheit, der Asylgewährung, der Einwanderung und auch des Strafrechts. Zusätzlich werden mehr Aufgabenbereiche dem Mehrheitsprinzip bei Entscheidungen im Ministerrat unterworfen, bei dem die wesentlichen Regelungsbefugnisse liegen. Dabei sind zwar qualifizierte und doppelte Mehrheiten vorgesehen, das heißt Mehrheit nach Staatenstimmen und Mehrheit nach Bevölkerungszahl, aber Mehrheitsentscheidungen nehmen grundsätzlich den einzelnen Mitgliedstaaten die alleinige Verfügung über den betreffenden Aufgabenbereich. Wenn demgegenüber das Europäische Parlament mehr Mitentscheidungsrechte erhält, berührt das nicht die mit Mehrheitsentscheidungen verbundene Folge, daß Aufgabenbereiche der Entscheidungsbefugnis der Einzelstaaten entzogen werden.

Außerdem finden sich im Vertrag noch Möglichkeiten der weiteren Zuordnung von Aufgaben auf die Union. So kann der Europäische Rat, die Versammlung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, in einem vereinfachten Verfahren über Änderungen der Arbeitsweise der EU beschließen. Das betrifft alle Aufgabenbereiche mit Ausnahme der Außen- und Sicherheitspolitik – und birgt die Neigung und Gefahr, die betreffenden Aufgaben in verdichteter Weise zu bestimmen. Trotz der Zustimmungsbedürftigkeit entsprechender Beschlüsse durch die Mitgliedstaaten wird deren Beteiligung an Vertragsänderungen eingeschränkt.

Aufgabenausweitung ermöglicht zudem die Kompetenzergänzungsklausel. Mit dieser Bestimmung wird eine Art Generalermächtigung für eine Aufgabenerweiterung zur Verwirklichung der Ziele der Union durch ihre Organe eingeführt, die wegen des Einstimmigkeitsprinzips dem einzelnen Mitgliedsstaat zwar nicht aufgedrängt, die aber ohne Vertragsänderung und entsprechende Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat vorgenommen werden kann. Deren Rechte, Staatsgewalt demokratisch zu legitimieren, werden insoweit erheblich eingeschränkt.

Eine weniger beachtete Möglichkeit der Aufgabenausweitung besteht nicht zuletzt darin, daß im Rahmen der übertragenen Befugnisse zur Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes als Binnenmarkt vermehrt Regelungen der Union insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsgleichheit getroffen werden. Gleichheitsgrundsätze erzeugen einen ständigen Sog, alles durch Regelungen anzugleichen. Das Erfordernis der Gleichheit im Wettbewerb bewirkt eine kaum begrenzbare Aufgabe, entsprechende Bedingungen zu schaffen, angefangen mit Rechtsformen und endend mit Gesundheitserfordernissen (zum Beispiel dem Salzgehalt des Brotes). Dieses Einfallstor der Aufgabenausweitung und -verdichtung ist schwer zu schließen.

Auch der im Vertrag niedergelegte Grundsatz der Subsidiarität gibt dafür in seiner Unbestimmtheit keine hinreichenden Handhaben. Im Hinblick auf das Erfordernis von Gleichheitsbedingungen wird die EU meistens Gründe dafür finden, daß ihre Regelungen für den Binnenmarkt besser seien. Der Aufgabenausweitung zur Verwirklichung unionsweiter Wettbewerbsgleichheit kann deshalb wirksam nur durch Anerkennung unterschiedlich gestalteter und konkurrierender nationaler Märkte entgegengewirkt werden.

Wenn die im Vertrag auch festgelegte Verpflichtung der Union, die „nationale Identität der Mitgliedstaaten“ zu achten, nicht nur eine folkloristische Bedeutung haben soll, so wäre jene Anerkennung unterschiedlich gestalteter nationaler Märkte aus ihr abzuleiten. Jene Verpflichtung ist gleichzeitig zu verstehen als ein Grundrecht der Mitgliedstaaten auf ihre nationale Identität.

Konkret wäre dieses Recht auf Achtung „nationaler Identität“ zum Beispiel anzuwenden bei den vorgesehenen Einschränkungen der Marktfreiheiten im öffentlichen Interesse der Mitgliedsstaaten. Nicht die Angleichung der Marktbedingungen auf allen nationalen Märkten wäre zu regeln, sondern vornehmlich der gleiche Zugang zu den Märkten unter ihren möglichen unterschiedlichen Bedingungen.

Die bisherige Praxis widerstreitet dem unter anderem mit dem Herkunftslandsprinzip, das heißt der weitgehenden Zugangsmöglichkeit von Waren und Dienstleistungen nach den Voraussetzungen des Herkunftsstaates der Person. Dadurch wird geradezu die zu achtende „nationale Identität der Mitgliedstaaten“ mißachtet; dem Markt als Wirtschaftsform wird gegenüber einem politischen Prinzip der Vorzug gegeben.

Die aufgezeigten Möglichkeiten, Aufgaben zu erweitern, werden schließlich abgesichert durch den Grundsatz des uneingeschränkten Vorrangs des europäischen Rechts gegenüber dem nationalen Recht, auch dem nationalen Verfassungsrecht, den der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung anwendet. Als Herr über die Auslegung und Anwendung des europäischen Rechts kann er bei ausdehnender Auslegung von Zuständigkeiten der Union deren Aufgaben ausweiten. In seiner bisherigen Praxis hat der Gerichtshof gezeigt, daß er diesen Weg im Sinne der „Schaffung einer immer engeren Union“ beschreitet. Dabei wird beispielsweise auch militärischer Dienst zu einer marktmäßigen Dienstleistung. Mit dieser Zielsetzung und dem Anspruch vom Vorrang europäischen Rechts wird der Grundsatz der begrenzten Zuständigkeiten der EU derart abgeschwächt, daß er für die Wahrung nationaler Staatlichkeit kaum noch Bedeutung haben kann. Das wird nicht zuletzt durch weitgefaßte Zielbestimmungen im Vertrag begünstigt. Auch insofern bringt der Reformvertrag einen Einbruch in den zu wahrenden Bestand nationaler Zuständigkeiten.

Für die Vereinbarkeit des Reformvertrags von Lissabon mit dem Grundsatz der Demokratie des Grundgesetzes ist es demnach entscheidend, daß der Bundesrepublik und dem Bundestag als Vertretung des deutschen Volkes entsprechend der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein „Übergewicht an Aufgaben und Befugnissen“ verbleibt. Demokratisierung der EU ist kein Weg zur Wahrung des Demokratieprinzips im Sinne des Grundgesetzes. Auch dann nämlich würden die auf die Union übertragenen Aufgaben grundsätzlich der Verfügung nationaler Staatlichkeit entzogen. Soll die EU ein demokratischer Bundesstaat werden, läßt sich das vom Grundgesetz aus aber nicht durch Verfassungsänderung bzw. verfassungsändernde Staatsverträge wie dem Reformvertrag verwirklichen. Dafür bliebe nur der Weg der Ablösung des Grundgesetzes, den dann aber das deutsche Volk als Verfassungsgeber – in welcher Form auch immer – beschreiten müßte.

Nach dem Ausgeführten spricht alles dafür, daß bei Inkrafttreten des Reformvertrages das Übergewicht für die nationale Staatsgewalt nicht mehr gewährleistet wird. Wenn das Bundesverfassungsgericht deshalb den Vertrag nicht als grundgesetzwidrig verwerfen will, wird es erhebliche deutsche Vorbehalte für seine Auslegung und Anwendung bestimmen müssen. Diese Vorbehalte ergäben sich aus der grundgesetzlichen Forderung, demokratisch gestaltete nationale Staatlichkeit zu wahren. Sie könnten nicht zuletzt als Wahrnehmung des Rechts auf Achtung der „nationalen Identität“ verstanden werden, das sich aus einem übervertraglichen Grundsatz über die gegenseitige Achtung der Selbständigkeit der europäischen Vertragsstaaten ableiten läßt. Als Hüter der Verfassung wäre das Gericht zur Wahrnehmung dieses Rechts auch verpflichtet.

 

Prof. Dr. Ulrich Penski, Jahrgang 1934, Studium der Rechtswissenschaften und Philosophie. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Richter am Verwaltungsgericht seit 1975 Professor an der Universität Siegen für Öffentliches Recht (Staats- und Verwaltungsrecht). Veröffentlichungen zum Staats- und Verwaltungsrecht und zur Rechtsphilosophie.

Foto: Der deutsche Bundesadler, plattgemacht von der EU: Ablösung des deutschen Volkes als Träger eines selbständigen Staates

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