© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/09 29. Mai 2009

„Ausgerechnet Kurras!“
Der Fall Kurras erschüttert erneut. War die Stasi verantwortlich für den Schuß, der die Bundesrepublik veränderte?
Moritz Schwarz

Herr Kühn, Sie waren als Persönlicher Referent eines Staatssekretärs im Bundesinnenministerium und später im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen über zwanzig Jahre lang zuständig für die DDR. Hat Sie Karl-Heinz Kurras’ Stasi-Tätigkeit überrascht?

Kühn: Im ersten Moment war ich verblüfft – ausgerechnet der Kurras! –, aber an sich hat es mich nicht überrascht. Denn der erhebliche Einfluß der Stasi im Westen ist seit langem bekannt. Das allgemeine große Erstaunen jetzt zeigt nur, wie wenig sich Politik und Medien bisher für diese Tatsache interessiert haben.

Sie selbst haben den „IM Konrad“ für die Öffentlichkeit identifiziert (JF 28/08), einen Ministerialrat, der bis heute im Bundesfinanzministerium tätig ist.

Kühn: Der Beamte wurde nach meiner Veröffentlichung im Bundesfinanzministerium umgesetzt. Über den Stand eines Disziplinarverfahrens kann ich nichts sagen.

Wie tief ist die Stasi nach Ihrer Einschätzung in den Tod Benno Ohnesorgs verwickelt?

Kühn: Sie meinen, ob Kurras vielleicht im Auftrag der Stasi geschossen hat? Dafür gibt es bis jetzt keinerlei Beweise.

Ist es denn denkbar?

Kühn: Denkbar ist es. Denn es ist mehrfach bewiesen, daß das MfS weder vor fingierten Aktionen zurückschreckte, die geeignet waren, die Bundesrepublik zu diskreditieren, noch vor sogenannten „nassen Sachen“, also Vorgängen, bei denen Blut geflossen ist.

Der Journalist Uwe Soukup, Autor eines Buches über Ohnesorg, meint, Kurras sei ein zu wertvoller Informant gewesen, als daß ihn die Stasi für einen Mordauftrag „verheizt“ hätte.

Kühn: Mag sein, aber so kategorisch würde ich das nicht ausschließen. Denn zum einen hat es auch beim MfS Fehlentscheidungegen gegeben, zum anderen war die einschneidende Veränderung des Zeitgeistes, die sich durch den Tod Ohnesorgs vollzogen hat, für die Stasi ausgesprochen wertvoll – vielleicht wertvoller als der Informant Kurras. So hat Markus Wolf eingeräumt, daß ab 1968 zum Beispiel die Anwerbung von West-Studenten für die Stasi viel einfacher wurde.

War für das MfS denn vorhersehbar, daß sich durch eine solche Aktion der Zeitgeist entsprechend beeinflussen lassen würde?

Kühn: Den für Westspionage zuständigen Fachleuten um Markus Wolf traue ich durchaus zu, die Folgen der Tötung eines Demonstranten durch einen Polizeibeamten realistisch eingeschätzt zu haben. Und immerhin hatte man ja durch Aktionen wie die von der Stasi veranlaßten Hakenkreuzschmierereien an der Kölner Synagoge oder an Grabsteinen auf jüdischen Friedhöfen, die weltweit Empörung auslösten, bereits positive Erfahrungen mit der Wirksamkeit dieses Instruments gemacht.

Gab es also ein strategisches Vorgehen bei der Stasi, in dessen Kalkül ein solcher Einsatz von Kurras gelegen haben könnte?

Kühn: Nein, der Charakter des Einsatzes fingierter Aktionen durch die Stasi war eher sporadisch-situativ als strategisch koordiniert. Diese Maßnahmen folgten sicher nicht einem operativen Generalplan, der logisch etwa von den Hakenkreuzschmierereien zu dem von Ihnen unterstellten Einsatz von Kurras als agent provocateur hätte führen können. Man muß bedenken, daß die Stasi gemäß der marxistischen Lehre sicher war, der Untergang des kapitalistischen Systems sei historisch vorherbestimmt. Man brauchte nur hier und da etwas nachzuhelfen. So reagierte man auf Gelegenheiten, die sich boten. Motto: „Schauen wir mal, was dabei herauskommt.“ Mehr als zwei, drei Züge hat auch die Stasi nicht vorausgeplant.

Kurras geringer Dienstgrad legt nicht nahe, daß er eine Topquelle war, wie Uwe Soukup unterstellt. Wie wertvoll war er tatsächlich?

Kühn: Kurras war für die Stasi eine gute Quelle; denn er hatte offensichtlich Einblick in die Bekämpfung DDR-gesteuerter Einflüsse durch die Westberliner Kripo. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß man dafür notwendigerweise einen hohen Rang bekleiden mußte. Die interessantesten Zielobjekte für das MfS waren die Registratoren – und die sind alle eher rangniedrig.

Kurras war nicht nur Stasi-Zuträger, sondern auch SED-Mitglied.

Kühn: Das ist ein bißchen überraschend, denn das war keine Voraussetzung für einen Stasi-Spitzel, wenn es auch nicht ganz selten vorkam. Kurras war also irgendwie Überzeugungstäter – auch wenn er sich zusätzlich gut bezahlen ließ.

Dann müßte er aber doch mit den linken Studenten sympathisiert haben. Wie paßt da, daß er auf sie schoß?

Kühn: Das ist eine gute Frage, die ich auch nicht beantworten kann.

Hat sich der Schuß doch versehentlich gelöst?

Kühn: Das ist nicht sehr wahrscheinlich, denn Kurras war nachweislich ein passionierter und erfahrener Schütze. Aber das Strafgericht konnte es offenbar nicht völlig ausschließen.

Oder hat er als guter Genosse vielleicht – gefühlskalt – seinen Herren einen Dienst erweisen wollen und ohne deren Auftrag, aber in deren Sinne geschossen, um auf eigene Rechnung einen für die Bundesrepublik desavouierenden Zwischenfall zu schaffen?

Kühn: Das halte ich angesichts der engen Anbindung der IM an das MfS für sehr unwahrscheinlich. Das MfS hat sich stets bemüht, seine Agenten nicht auf eigene Faust handeln zu lassen. Dann ist die „Auftragstheorie“ schon plausibler.

Der ehemalige Apo-Aktivist und Ohrenzeuge des Vorfalls Bernd Rabehl (Interview unten) schließt aus diesen Widersprüchen auf eine ganz andere Lösung. Er fragt, ob Kurras vielleicht als Doppelagent eigentlich im Dienste der CIA stand.

Kühn: Bei aller Wertschätzung für Bernd Rabehl: Was sollte das Interesse der CIA an einem in West-Berlin erschossenen Studenten gewesen sein? Im übrigen: Das MfS hat, soweit wir wissen, praktisch alle Doppelagenten enttarnt.

1967 gingen alle davon aus, daß Kurras ein mehr oder weniger loyaler Polizeibeamter war. War sein Freispruch ein Skandal?

Kühn: Kurras wurde freigesprochen aus Mangel an Beweisen. Juristisch gesehen erscheint mir das Urteil einwandfrei. Wenn nicht genügend Beweise für Vorsatz oder Fahrlässigkeit existieren, muß das Gericht den Angeklagten freisprechen.

War es letztlich nicht ein politisches Urteil, um Kurras zu decken?

Kühn: Eine schwerwiegende Unterstellung. Das möchte ich dem Gericht nicht nachsagen.

Es ist klar, daß Kurras Ohnesorg getötet hat – und dennoch ist er straffrei davongekommen. Empfinden Sie das nicht als einen Skandal?

Kühn: Das Gericht hat seine Bauchschmerzen bei seinem eigenen Urteil zum Ausdruck gebracht. Aber im Zweifel muß es für den Angeklagten entscheiden.

Immerhin Karl-Heinz Bohrer schrieb damals in der „FAZ“, die Polizei habe „einer Brutalität Lauf gelassen, wie sie bisher nur aus faschistischen oder halbfaschistischen Länder bekannt wurde“. Sie haben keine Empörung empfunden?

Kühn: Ich war damals Mitarbeiter der FDP-Bundestagsfraktion, und es war uns völlig klar, daß die Politik Entscheidungen der Judikative zu respektieren hat. Dies ist ein Prinzip des Rechtsstaats, das uns unter anderem von Diktaturen wie der DDR unterschied.

Der Forschungsverbund SED-Staat nennt es einen Skandal, daß die Enttarnung Kurras’ erst zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR erfolgt ist.

Kühn: Der Vorwurf ist berechtigt. In der Birthler-Behörde sollte man gezielter und auf breiter Grundlage nach Akten über West-Agenten suchen. Man könnte sich dabei auf die zahlreichen Verfahren der Generalbundesanwaltschaft stützen, die in den neunziger Jahren wegen Verjährung eingestellt wurden. Vielleicht bewirkt ja der Fall Kurras ein Umdenken. Die historische Wahrheit sollte jedenfalls immer Vorrang haben.

 

Detlef Kühn: Der Jurist war ab 1966 in der FDP-Bundestagsfraktion zuständig für Außen-, Deutschland- und Verteidigungspolitik. 1970 wechselte er als Persönlicher Referent ins Bundesinnenministerium und 1972 ins Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, wo er bis zur Auflösung der Behörde Ende 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben war. Geboren wurde Kühn 1936 in Potsdam.

 

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