© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/09 05. Juni 2009

Der Dammbruch im Ostblock
Vor zwanzig Jahren verloren bei den Parlamentswahlen in Polen die Kommunisten erstmals nach 1945 ihre Mehrheit
Andrzej Madela

Die polnische Generalität, die im Dezember 1981 mit Moskaus Zustimmung die zivile Staats- und Parteiführung beiseite fegte, ist sieben Jahre später definitiv am Ende. Der desolate Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft veranlaßt sie im August 1988 trotz mehrfacher Warnsignale aus Prag und Ost-Berlin zu dem Versuch, die als „Solidarność“ firmierende Opposition unter Lech Wałęsa für ihre Pläne zu vereinnahmen. Dabei fühlt sie sich ermuntert durch Reformen, die Michail Gorbatschow in Moskau durchführt. Der Wandel ist für die international isolierte Warschauer Führung und ihre schwindsüchtige Rest-Partei, die in den letzten sieben Jahren 850.000 Mitglieder verloren hat, gleichermaßen lebenswichtig. Denn eine Opposition, die man am politischen und wirtschaftlichen Mißerfolg gründlich mitbeteiligt, würde, so die Hoffnungen, sehr schnell ihren Unschuldsnimbus verlieren. Überdies glaubt man die Quertreiber schon noch  durch parlamentarische Mehrheiten und (schlimmstenfalls) eiserne Kabinettdisziplin zuverlässig „einzurahmen“.

Am 4. Juni erleben die Kommunisten ihr Waterloo

Im künftigen Parlament von 460 Sitzen reserviert die Staatsführung 299 für sich und ihre Verbündeten, wobei 264  davon über Wahlbezirke, 35 hingegen über eine Landesliste besetzt werden sollen. Der Opposition steht es frei, im Kampf um die restlichen 161 Sitze gegen die Partei anzutreten. Damit die  Solidarność ihre Legalität zurückgewinnt, werden die 1982/1983 verbotenen Organisationen und Vereinigungen wieder zugelassen und für die Zeit  des Wahlkampfs mit einem Mini-Zutritt zu den Medien (dreißig Fernsehminuten pro Woche) sowie einer eigenen Zeitung, der neu gegründeten Gazeta Wyborcza, ausgestattet. Das einzige echte Zugeständnis ist die Schaffung des Senats, einer zweiten Parlamentskammer mit Vetorecht und 100 Sitzen.

Der Kampf um diese bleibt von jeglichem Proporz frei. Auch soll Polen in Zukunft nicht mehr von einem KP-Generalsekretär, sondern von einem Staatspräsidenten regiert werden. Dieser wird von Sejm und Senat für fünf Jahre gewählt, er beruft und entläßt die Regierung und erhält weitgehende Kompetenzen in Sicherheit, Außenpolitik und Verteidigung. Das auf Parteichef Wojciech Jaruzelski zugeschnittene Amt versteht sich als Notlösung. Sollten die Wahlen tatsächlich nicht mehr als die 299 Sitze ergeben, wäre noch ein Schlußmann da, der das Schlimmste verhindern kann. Die Wahl wird auf den 4. Juni 1989 festgelegt.

An diesem Tag erleben die kommunistischen Planspieler aber ihr Waterloo. Von den 100 Senatssitzen erobert die Solidarność 99, im Sejm weitere 161. Unter die Räder gerät auch die landesweite Liste mit 35 prominentesten Parteifunktionären, von denen nur zwei die erforderliche Stimmenzahl erhalten. Die erhoffte Zahl von 299 Sitzen  schrumpft auf 266, die verbliebenen 33 Plätze gehen im zweiten Wahlgang am 18. Juni verloren. Damit erscheint der Erhalt einer vor 44 Jahren von den Siegermächten, insbesondere Stalin, festgelegten Ordnung zum ersten Mal als nicht mehr gesichert, die politische Erosion des Ostblocks hingegen sehr wahrscheinlich. Zwar folgt einen Monat später, am 19. Juli, ein Punktsieg für die Kommunisten – sie bringen ihren Kandidaten ins heißersehnte Staatspräsidentenamt. Doch bereits die Mission der Regierungsbildung, die das neue Staatsoberhaupt ausgerechnet dem allseits verhaßten Innenminister Czesław Kiszczak überträgt, verfängt nicht mehr: Kein einziger Abgeordneter der Opposition möchte unter ihm Minister werden. Mit Adam Michniks programmatischem Artikel „Euer Präsident, unser Premier“, der in der Gazeta Wyborcza erscheint, geht nun die Opposition, die sich diesen Slogan zu eigen macht, ihrerseits zum Angriff über. Sie kündigt die bisherige stillschweigende Übereinkunft auf, laut welcher sie lediglich zur Legitimation einer leicht retuschierten Nachkriegsordnung beiträgt.

Schon bald erliegen die bisherigen Parteiverbündeten unter Bauernpartei und Linksdemokraten dem Werben der Opposition. Diese kann nach gekonntem Spiel aus öffentlichem Druck und geheimer Lockung am 7. August die Entstehung einer neuen Koalition aus Solidarność, Bauernpartei und Linksdemokraten verkünden. Am 19. August 1989 beauftragt Staatspräsident Jaruzelski den Nichtkommunisten Tadeusz Mazowiecki mit der Bildung einer ersten Regierung in Osteuropa, in der die Kommunisten keine Mehrheit haben.  

Ohne sowjetische Hilfe  mußte Jaruzelski aufgeben

Da die Koalition ohne Wohlwollen des Staatsoberhaupts nicht funktionieren kann, nimmt sie den gescheiterten kommunistischen Rest mit ins Boot. Die neue Regierung ist ein historischer Kompromiß und ein Balanceakt zwischen Kontinuität und Neubeginn. Die Partei geht ihn ein im Bewußtsein eigener Schwäche, die Opposition, weil sie an die einmal ins Werk gesetzte Dynamik der Ereignisse glaubt.

Ihr Kalkül geht allmählich auf. Zwar kontrolliert das Regime über seine Minister Verteidigung und Sicherheit (letzteres erneut durch Czesław Kiszczak), die Kompetenz für Wirtschaft, Soziales und Finanzen liegt jedoch bei der Opposition. Diese lernt schnell, die Spielräume der beiden „Fremdkörper“ durch Kabinettdisziplin und Sparzwänge zu beschneiden, wenn sie auch nicht verhindern kann, daß der Sicherheitsdienst weite Teile hochbrisanten Materials vernichtet und gleichzeitig munter den radikalen Teil der Opposition überwacht, für den der Kompromiß mit den Kommunisten unannehmbar bleibt.

Dieser Zustand findet sein Ende erst im Dezember 1990, als die innerlich zerrissene und außenpolitisch nicht mehr handlungsfähige Sowjetunion Wojciech Jaruzelski keine Rückendeckung mehr bieten kann und dieser sein Amt niederlegt. Mit ihm gehen auch seine Minister. Anderthalb Jahre nach der denkwürdigen Wahl steht mit dem Liberalen Jan Bielecki ein Premier einem Kabinett  vor, in dem kein einziger Kommunist mehr vertreten ist.

Foto: Lech Wałesa bei der Stimmabgabe zur Parlamentswahl am 4. Juni 1989: Trotz aller formalistischen Finessen gelingt es der Kommunistischen Partei Polens nicht, ihre Macht zu behaupten.

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