© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/09 12. Juni 2009

Den Souverän stärken
Das Volk wendet sich ab: Nur eine Entmachtung der Parteien kann die Demokratie retten
Michael Paulwitz

Nach der Wahl freuen sich alle wieder, auch wenn sie gar nichts zu feiern haben. Sogar bei den herb abgestraften Sozialdemokraten waren die Mienen nur kurz getrübt. Zur Schadenfreude haben die anderen freilich auch keinen Grund: Diese Europawahl war wieder eine Ohrfeige für die politische Klasse.

Die mehr oder weniger stolz vorgezeigten Pro­zentzahlen sind trügerisch. Gemessen an der Gesamtheit der Wahlberechtigten konnten die sogenannten Volksparteien gerade mal ein Viertel aller Stimmbürger für sich einnehmen. Die SPD steht so gerechnet als Randpartei im einstelligen Bereich da. Die 99 deutschen Abgeordneten im Europaparlament haben zusammen nicht einmal vierzig Prozent der Stimmberechtigten hinter sich.

Den Volksparteien läuft das Volk davon, und das mit Recht. Denn bei dieser Wahl gab es nichts zu entscheiden. Zum einen, weil das Europäische Parlament gar kein Parlament ist, sondern eine mehrfache Mogelpackung. Es ist keine echte Legislative und kontrolliert auch keine Regierung im Sinne der Gewaltenteilung. Es kann auch gar kein echtes Parlament sein, weil die Europäische Union – noch – ein Staatenbund ist und kein Bundesstaat mit einem eigenen europäischen Staatsvolk. Das Europaparlament soll den Europäern Staatlichkeit suggerieren, wo keine ist und sein darf, und trägt auf diese Weise dazu bei, die Völker schon mal sachte an ihre bevorstehende Entmündigung gewöhnen. Diesem Zirkus verweigert sich die Mehrzahl der Europäer und nutzt die Wahl zum Straßburger Pseudo-Parlament statt dessen bevorzugt zum nationalen Denkzettel-Verteilen.

Dabei legitimieren sie Abgeordnete, die mangels echter Aufgaben eine Menge überflüssiges Papier wälzen und dafür üppige Diäten einstreichen, Spesen abrechnen und sich auf eine großzügige Altersversorgung freuen können. Doch nicht einmal darüber, wem sie diese Privilegien gönnen, dürfen die Wähler entscheiden: Sie wählen nicht Personen, die ohnedies kaum jemand kennt, es sei denn, sie machten gerade Schlagzeilen mit unüblicher Faulheit – gewählt werden Listen, die die Parteien aufstellen und damit einen Großteil der Gewählten von vornherein unverrückbar festschreiben. Die Wähler verschieben allenfalls ein paar Gewichte. Diesen Vorgang auch noch als „Direktwahl zum Europäischen Parlament“ zu deklarieren, grenzt schon an Volksverhöhnung.

Den Ruf, vor allem impotenter Debattierclub und Versorgungsstation zu sein, trägt das Europäische Parlament durchaus nicht unverdient. Weniger bekannt ist, daß auch die nationalen und Länderparlamente kaum noch etwas zu sagen haben. 84 Prozent der Gesetzesakte, monierte unlängst Altbundespräsident Roman Herzog, kämen schon aus Brüssel. Dort werden sie ohne wirkliche demokratische Kontrolle in Minister- oder Bürokratenrunden ausgehandelt und dürfen von den gewählten Volksvertretern in den Mitgliedstaaten anschließend nur noch durchgewinkt werden.

Der schleichenden Entmachtung der Volksvertretungen steht die selbstreferentielle Präpotenz und Machtanmaßung der politischen Klasse gegenüber. Längst hat sich das Verfassungsgebot, wonach die Parteien bei der politischen Willensbildung „mitwirken“ sollen, ins Gegenteil verkehrt: Die Apparate der etablierten Parteien haben die politische Willensbildung faktisch monopolisiert, die Wähler spielen nur noch eine Statistenrolle.

Möglich gemacht hat dies zum einen der ungenierte Zugriff auf staatliche Subsidien, die den Parteien sowohl direkt über die staatliche Parteienfinanzierung als auch indirekt über ihre Stiftungen, Fraktionen und parteiendominierte Institutionen zugute kommen. Geld ist Macht, erst recht die Fähigkeit, Posten und Privilegien zu verteilen. Die dadurch errungene Vormachtstellung erlaubt den Parteiapparaten, die politische Klasse als durch hohe Zugangshürden abgesicherte geschlossene Gesellschaft zu organisieren, zu der Außenstehende, neue politische Kräfte und Bewegungen etwa, kaum noch Zugang finden.

Wer aber über eine der Parteientüren erst mal drinnen ist, der kann, angepaßtes Verhalten vorausgesetzt, kaum noch herausfallen. Das fördert eine Negativauslese von Berufspolitikern, deren oberstes Bestreben ist, nicht anzuecken und möglichst auch nicht aufzufallen, außer durch nicht-politische, private und persönliche Eigenschaften und Moden, keinesfalls aber durch nonkonforme Inhalte, die durch den geschickten Gebrauch von Worthülsen zu vermeiden sind. Die geistige Armut dieses gestanzten Politikersprech zwischen „WUMS“ und Waschmittelwerbung durfte auf den Plakatwäldern zur Europawahl gerade wieder bestaunt werden.

Den Bürgern und Wählern, aber auch den einfachen Mitgliedern und „Parteisoldaten“, kommt dabei mehr und mehr die Rolle bloßer Statisten in einer Inszenierung zu, in der sie dem Regisseur nicht dreinzureden haben. Nicht sie entscheiden in der Regel, wer aufgestellt oder im Netzwerk versorgt wird, wer einen „sicheren Listenplatz“ erhält oder von der Bühne verschwinden muß, sondern die Parteiapparate. Nicht die Wähler und Mitglieder bestimmen, welche Themen und Anliegen auf die Tagesordnung gesetzt oder von ihr gestrichen werden, sondern wiederum die Parteiführungen – oder gleich die Brüsseler Eurokratie. Grundsatzdiskussionen sind rar, meist sagen alle in Nuancen das gleiche. Da kann man auch gleich Volkskammer wählen.

Die vielzitierte Politikverdrossenheit und der rasante Mitglieder- und Wählerschwund der Volksparteien haben ihre Wurzel in diesem kalten Putsch: Die Bürger werden systematisch ihrer souveränen Rechte enteignet, das Wahlrecht wird inhaltlich entkernt, weil es durch Wahlen kaum noch etwas zu entscheiden gibt. Kein Wunder, daß die Wähler zu Hause bleiben und keiner mehr inhaltsleere Plakate kleben möchte. Soll die deutsche Republik eine Demokratie bleiben, muß das Volk wieder Souverän werden.

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