© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/09 12. Juni 2009

„Immer am oberen Anschlag“
Lärm: Das Umweltbundesamt warnt vor ganz und gar nicht lautlosen Gesundheitsgefahren
Tobias Schmidt

Jedes achte Kind in Deutschland weist eine auffällige Minderung der Hörfähigkeit auf.“ Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Umweltbundesamtes (UBA). Zielgruppe der Untersuchungen über drei Jahre waren Kinder zwischen acht und 14 Jahren. „Wir sollten uns bewußt werden, daß wir in einer zu lauten Welt leben“, erklärte der UBA-Vizepräsident Thomas Holzmann. „Deshalb müssen wir besonders Kinder und Jugendliche vor Lärm schützen.“

Den Kindern wurden Fragen nach gehörgefährdenden Freizeitgewohnheiten, Gehörsymptomen und Umweltlärmbelästigung gestellt, zudem wurden sie einem sogenannten Screening-Hörtest und Blutdruckmessungen unterzogen. Des weiteren wurde in dem „Kinder-Umwelt-Survey“ (KUS) mittels Schallpegelmessungen die Umweltlärmbelastung der jeweiligen Wohnungen geprüft. Im Frequenzbereich von ein bis sechs Kilohertz (kHz/hohe und mittlere Töne) weisen laut KUS 12,8 Prozent der Kinder eine Hörminderung von mehr als 20 Dezibel (dB) auf. 11,4 Prozent der Kinder haben bereits über vorübergehende Ohrgeräusche nach dem Konsum lauter Musik berichtet.

Das UBA betont jedoch, daß die KUS-Ergebnisse nicht den Rückschluß zulassen, daß zwischen dem Musikhören über Kopfhörer und Verlust der Hörfähigkeit direkte Zusammenhänge bestünden. Immerhin 44,6 Prozent der Acht- bis Zehnjährigen und sogar 70,3 Prozent der Elf- bis Vierzehnjährigen hören Musik über Kopfhörer. 23,5 Prozent hören die Musik nach eigenen Angaben laut, 11,4 Prozent von diesen hätten den Lautstärkeregler „immer am oberen Anschlag“. Das tägliche Musikhören über Kopfhörer schwanke von 30 Minuten bis über zwei Stunden: „Kinder mit niedrigem Sozialstatus benutzen die Geräte länger und hören lauter.“ 16,5 Prozent der Kinder wohnen an stark befahrenen Haupt- und Durchgangsstraßen. Insgesamt zwei Drittel der Befragten hätten ihr Kinderzimmer zur Straße hin. Je lauter die Straße, desto häufiger sei zu ihr das Kinderzimmer ausgerichtet. Zwischen 7,3 und 16,4 Prozent der Kinder fühlten sich tagsüber durch Straßenlärm belästigt; nachts zwischen 6,8 und 7,9 Prozent.

Aber nicht nur Kinder seien betroffen. Laut dem Berliner Experten für Lärmwirkung Wolfgang Babisch werde Lärm von einem Großteil der Menschen als Umweltbelastung empfunden. Viele Luftschadstoffe könne man gar nicht riechen. Lärm aber hören wir durch unsere Ohren immer. Ganz oben auf der Belästigungsliste stehe Straßenverkehrslärm. Die Folge seien starke gesundheitliche Belastungen. Gehörschäden können ab 85 dB auftreten: Ein Preßlufthammer verursacht beispielsweise 100 dB, in Diskotheken werden über 110 dB erreicht, vor den Boxen auf Rockkonzerten sind es gar 130 dB – der Straßenverkehr liegt dagegen „nur“ bei 80 dB.

Der Umweltlärm sei in der Regel eine moderate Schallbelastung, führe jedoch zu Schlafstörungen, zu sinkender Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit und zu starken Streßreaktionen. Letztere äußerten sich in der vermehrten Ausschüttung von Streßhormonen und Bluthochdruck. Auch bei den im KUS befragten Kindern mit Zimmer zur Straßenseite ist erhöhter Blutdruck gemessen worden. Langfristig, so Babisch weiter, könne das Wohnen an sehr lauten Straßen und in Flughafennähe infolge des Bluthochdrucks sogar zum Herzinfarkt führen. Babisch weist darauf hin, daß Kinder und Erwachsene gleichermaßen durch hohe Lärmpegel gefährdet sind. Die Lärmbelastung werde sogar summiert: Wer von Kindesbeinen an fortwährend dieser Belastung ausgesetzt sei, werde im Alter neben den oben genannten Gesundheitsschäden eher schwerhörig.

Gegen die unüberhörbare Lärmgefahr lasse sich jedoch angehen. Zur Verringerung des Umweltlärms sieht Babisch die Politik in der Pflicht. Die Kommunen könnten beispielsweise mehr Tempo-30-Zonen einrichten und geräuschverringernden Straßenbelag auftragen lassen. Aber auch der einzelne könne Umweltlärm mindern, indem er geräuscharme Autoreifen verwende oder auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgreife, um das Verkehrsaufkommen zu reduzieren. Den Freizeitlärm müsse man selbst verringern, sich Konzerte von weiter hinten anschauen oder nach dem Diskobesuch das Gehör entspannen lassen. Ohrstöpsel müßten bei solchen Aktivitäten eigentlich Pflicht sein.

Weitere Vorschläge wurden durch das UBA und die Europäische Akademie für städtische Umwelt im Handbuch zur Lärmminderung namens „Silent City“ veröffentlicht. Immerhin steht die Politik durch die EU-Umgebungslärmrichtlinie 2002/49/EG auch in der Pflicht zum Handeln. Laut UBA leiden 20 Prozent aller Menschen in der EU unter Lärmbelästigungen, die als sehr gesundheitsgefährdend einzustufen seien.

Der Kinder-Umwelt-Survey (KUS) Lärm im Internet: www.umweltdaten.de/publikationen/fpdf-l/3617.pdf

Ein Lärmschützer-Vergleich steht unter: www.test.de/themen/gesundheit-kosmetik/test/-Ohrstoepsel/1348911/1348911/

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen