© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/09 26. Juni 2009

Das Alpenmilch-Paradies im Umbruch
Landwirtschaft: Der rauhe Wind der globalen Liberalisierung trifft nun auch Bauern und Molkereien in der EU-Enklave Schweiz
Harald Ströhlein

Anläßlich des EU-Gipfels demonstrierten vorige Woche mehrere tausend Landwirte mit Hunderten Traktoren in Brüssel. Über dem EU-Parlament waren Rauchschwaden zu sehen, nachdem einige besonders wütende Milchbauern Autoreifen und Stroh angezündet hatten. Doch die Staats- und Regierungschefs befaßten sich nur am Rande mit der EU-Milchpolitik (JF 23/09), geschweige denn mit den Sorgen der Bauern – sie hatten wichtigere Themen auf ihrer Agenda: die zweite Amtszeit von EU-Kommissionschef José Manuel Durão Barroso und die Regulierung der Weltfinanzmärkte.

Erstmals waren auch Schweizer unter den Brüsseler Protestierenden, denn der rauhe Wind der globalen Liberalisierung kennt keine Grenzen – er macht selbst vor der EU-Enklave Schweiz nicht mehr halt. Sowohl den Schweizer Milchbauern als auch den Milchverarbeitern stehen schwere Zeiten bevor. Noch gut vier Prozent der 3,9 Millionen beschäftigten Eidgenossen verdienen ihr Brot mit Ackerbau und Viehzucht. Rechnet man die alpwirtschaftlichen Flächen hinzu, wird über ein Drittel des schweizerischen Bodens von über vier Millionen Hektar landwirtschaftlich genutzt.

Vor zwanzig Jahren gab es über 90.000 Höfe, dieser Tage sind es gerade noch 60.000. Knapp ein Drittel davon sind „Mondscheinbauern“, die nach Feierabend die Krume bearbeiten und ihr Hauptsalär anderweitig verdienen. Die Schweizer Milchbauern haben es seit jeher nicht leicht. Derzeit arbeitet ein Milchviehhalter durchschnittlich über 55 Stunden pro Woche, um knapp 17 Hektar eigenes und gut sieben Hektar gepachtetes Feld zu beackern und seine 17 Milchkühe zu melken – für gut 35.000 Franken im Jahr. Je nach Ökologisierungsgrad des Betriebs, Höhenlage oder Hanganteil der Flächen gibt es vom Staat noch eine Zuzahlung, die sich im Schnitt auf umgerechnet etwa 30.000 Euro beläuft.

Abweichend von dieser Momentaufnahme zeigt die Entwicklung seit der von der Schweizer Regierung im Jahre 1977 eingeführten staatlich reglementierten Begrenzung der Milchablieferung je Betrieb, daß die eidgenössischen Milch­erzeuger einem eklatanten Schrumpfungsprozeß unterliegen, der sich dieser Tage ungebrochen fortsetzt. So konnte man vor einem Vierteljahrhundert noch fast 60.000 Milchbauern zählen; heute sind es mit knapp 28.000 weit weniger als die Hälfte. Gleichwohl stieg die Milchmenge je Betrieb, worin sich die in der gesamten Landwirtschaftsbranche zu beobachtende Professionalisierung widerspiegelt. Während beispielsweise seit 2000/01 ein Viertel der Milcherzeuger das Handtuch werfen mußte, erhöhten die noch wirtschaftenden Betriebe ihre Produktion um knapp 40 Prozent auf durchschnittlich 120.000 Kilogramm Milch. Dennoch reicht dieses Produktionsniveau nach Ansicht versierter Ökonomen nicht aus, um einen Betrieb langfristig am Leben zu erhalten.

Insgesamt wurde im Jahr 2008 mit über 3,4 Millionen Tonnen mehr Milch als jemals zuvor produziert – gegenüber dem Vorjahr wurden in den Schweizer Ställen somit etwa fünf Prozent mehr Milch erzeugt. Eine Retourkutsche, denn gemäß den Marktgesetzen bekommen die Milcherzeuger diese Überproduktion anhand ihres Milchgeldes deutlich zu spüren. Bewegte sich der Literpreis im Jahre 2007 um die 70 Rappen, erreichte dieser in der zweiten Jahreshälfte 2008 mit weit über 80 Rappen seine Spitze. Doch seitdem befindet sich der Milchwert analog dem durchschnittlichen Milcherzeugerpreis in der EU in einem bis dato ungewohnten Sinkflug. Zwar zahlen die Molkereien immer noch durchschnittlich etwa 60 Rappen bzw. 40 Cent für den Liter, doch Marktanalysten sind sich sicher, daß sich der Erzeugerpreis früher oder später dem europäischen Niveau von 20 Cent und weniger anpassen wird.

Auch die nachgelagerte Milchveredelung bleibt vor bislang unbekannten Marktturbulenzen nicht verschont. Trotz spottbilliger Butterexporte in die Türkei oder nach Ägypten quellen die Butterlager über, und sogar die selbstbewußten Käser machen große Augen. Dabei war Käse mit einer alleine 2008 gefertigen Menge von 180.000 Tonnen bislang die Schweizer Domäne schlechthin. Aufgrund zu starker Preisdifferenzen mit Wettbewerbsprodukten ist der Käseexport bisher in diesem Jahr um fast 20 Prozent eingebrochen. Gleichzeitig macht den Schweizern der florierende Import von Billigkäse und dessen zunehmender Absatz zu schaffen, womit nicht nur der vielgerühmte Patriotismus der Schweizer, sondern vielmehr die klein­strukturierte Molkerei- und Käsereibranche und deren Schlagkraft in Frage gestellt wird. Waren es vor etwa 15 Jahren noch über 650 Käsereien, stellen heute nur noch 190 den begehrten Emmentaler her. Wie Kenner der Szene einschätzen, ist das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht.

Diese Entwicklung läßt erkennen, daß sich selbst die Schweiz und damit ihre Bauern den liberalen Wirtschaftskräften nicht entziehen kann. Nicht zuletzt seit dem im Mai erfolgten offiziellen Ausstieg aus der Milchmengenkontingentierung steht die Schweizer Milchwirtschaft aber erst am Beginn eines Umbruchs, an dessen Ausgang man angesichts des bereits erfolgten Aderlasses gar nicht erst denken möchte.

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