© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/09 26. Juni 2009

Der Gegen-Frankfurter
Skepsis gegenüber dem „neuen Menschen“: Zwei Biographien über den Soziologen Erwin K. Scheuch
Klaus Hornung

In den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gehörte Erwin K. Scheuch neben dem jetzt verstorbenen Ralf Dahrendorf, Helmut Schelsky, Rene König und anderen zu den bekanntesten deutschen Soziologen. Sein Leben und vor allem sein akademisches und wissenschaftliches Wirken hat nun die Ehefrau des 2003 Verstorbenen in zwei gründlich recherchierten Bänden nachgezeichnet.

Scheuch wurde 1928 in einer streng katholischen Familie in einfachen Verhältnissen in Köln geboren, der Vater war zu dieser Zeit arbeitslos. Er begann das Studium der Soziologe 1949 in Köln bei dem Altmeister Leopold von Wiese, mit dessen Empfehlung er schon 1950 an einem der ersten akademischen Austauschprogramme in den USA teilnehmen konnte. An der University of Connecticut lernte er die gerade in Blüte gekommenen neuen Methoden der empirischen Sozialwissenschaft kennen – des Interviews, der Umfragen und der Meinungsforschung –, die Schwerpunkte seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit bilden sollten.

Schon 1956 promovierte er in Köln bei Rene König, dessen Assistent er wurde und der ihn in die Netzwerke der internationalen wissenschaftlichen Kontakte einführte. So konnte er bereits 1956 am 3. Weltkongreß der Internationalen Gesellschaft für Soziologie in Amsterdam teilnehmen. 1962 folgte die Einladung auf eine Gastdozentur in Harvard und damit der Durchbruch zur Internationalität. Seine Habilitationsarbeit über Meßverfahren in den Sozialwissenschaften eröffnete ihm mit 37 Jahren die ordentliche Professur in Köln. Dort wurde er zu einem der wichtigsten Repräsentanten der jungen empirischen und quantifizierenden Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik, die er in einer Vielzahl von Publikationen zu verbreiten versuchte – nicht ohne manchen Widerstand von Kollegen aus der älteren Generation wie Herbert Plessner oder Arnold Bergstraesser, die den Vorrang der geisteswissenschaftlich-historischen Soziologie zu behaupten versuchten.

Bei der 16. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) im April 1968 in Frankfurt hatte Scheuch das Hauptreferat „Methodische Probleme gesamtgesellschaftlicher Analysen“ übernommen. Es wurde zum Anstoß eines Methoden- und Prinzipienstreits, der unter dem Rubrum „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“ in die Geschichte der deutschen Soziologie eingegangen ist. Scheuch richtete seine Kritik an die Adresse einer „Kulturintelligenz“ und ihrer Sozialphilosophie, deren allgemeine Deutungsschemata er als Ideologie kennzeichnete und der er die Soziologie als Erfahrungswissenschaft gegenüberstellte. Mit anderen Worten: Hier trafen die Frankfurter Schule der Adorno, Horkheimer, Habermas und die sogenannte neopositivistische Schule aufeinander, die keine endgültigen ontologischen Erkenntnisse anerkannte und insbesondere den Anspruch der Frankfurter entschieden ablehnte, die „wahren Bedürfnisse“ der Gesellschaft zu kennen und zu bestimmen.

Scheuch selbst war eher skeptisch, ob man seine Position als „Kölner Schule“ bezeichnen konnte, waren doch etwa sein Lehrer Rene König und andere Lehrer an der Universität zu Köln keineswegs einfach als Neopositivisten zu rubrizieren. Der Konflikt bei der 16. Jahresversammlung der DGS stand im Zusammenhang mit der begonnenen Studentenbewegung in der Bundesrepublik.

Der Frankfurter Sozialistische Studentenbund (SDS) hatte eine öffentliche Diskussion zwischen seinen Vertretern und Professoren der DGS erzwungen, bei der Scheuch und Dahrendorf die letzteren zu vertreten hatten. Zutreffend charakterisierte Günter Zehm in der Welt vor allem die Rolle Scheuchs bei dieser Diskussion als die eines „Winkelrieds“ gegen die dogmatisch bornierten Studenten. Nach anfänglichen Vermittlungsversuchen machte Scheuch nun kompromißlos deutlich, daß er die Ziele und Methoden der Studentenbewegung für totalitär und terroristisch hielt.

In seinem Bericht über die Diskussion tauchten jetzt Begriffe auf wie „Sportpalastatmosphäre“ und „Tugendterror“, wissenschaftliche Veranstaltungen sollten zu „Teach-ins in Vulgärmarxismus“ umfunktioniert werden. Der Liberale Scheuch näherte sich Urteilen seines Kollegen Helmut Schelsky, der von dem hier aufgebrochenen Konflikt zwischen „wirklichkeitsverpflichteter und heilsgewisser Wissenschaft“ sprach und die Frankfurter Schule als „neue Säkularreligion“ mit quasireligiösen Zügen kennzeichnete.

Auch in dem 1968 erschienenen Sammelband unter Scheuchs Herausgeberschaft „Die Wiedertäufer der Wohlstandgesellschaft – Eine kritische Untersuchung der Neuen Linken und ihrer Dogmen“ wurden nun die Grenzen gegenüber der Neuen Linken deutlich abgesteckt: Hier entwickelte sich eine Bewegung, die weit hinausging über die Fragen vernünftiger Reformen in Universität und Gesellschaft, eine Bewegung, die vielmehr an die Täufer in der Reformationszeit erinnerte, an ihren Chiliasmus und an ihr Ziel des „neuen Menschen“. Wenn Scheuch hier mit treffenden Formulierungen die Neue Linke als eine „sich auf Offenbarung berufende Erweckungsbewegung“ und als „vorwissenschaftlichen Wunsch nach Totalerklärung“ charakterisierte, kam dabei nicht nur sein Kriterium von Erfahrungswissenschaft ins Spiel, sondern auch freiheitliche Konservative konnten dem ohne weiteres zustimmen.

Durch die bald darauf erfolgende Gründung des Bundes Freiheit der Wissenschaft (10. November 1970), bei der Scheuch wiederum eine initiative Rolle spielte, wurde deutlich, daß sich hier eine Koalition sozialdemokratischer Reformer (Hermann Lübbe, Thomas Nipperdey, Richard Löwenthal und andere) mit Konservativen wie Hans Maier, Friedrich Tenbruck oder Gerhard Löwenthal zusammenfand in der Abwehr einer Politisierung der Wissenschaft durch den Neomarxismus der Neuen Linken als einer Ideologie zur Verwirklichung utopischer Ziele und mit totalitären Methoden, die sich allesamt gegen die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes richteten. Diese Gründung wie auch Publikationen wie „Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft“ haben damals das Ihre dazu beigetragen, die Stoßkraft der linken Kulturrevolution zu brechen.

Nahezu fünf Jahre lang, zwischen 1971 und 1977, wurde Erwin Scheuch Zielscheibe fortgesetzter Störungen seiner Kölner Lehrveranstaltungen, war er doch als beredter Pressesprecher des Bundes Freiheit der Wissenschaft der sich radikalisierenden Studentenbewegung besonders verhaßt. Diese planmäßigen Störungen der Lehrveranstaltungen mißliebiger Professoren und ihre „Umfunktionierung“ zu Agitprop-Veranstaltungen im Sinne des Stamokap, also des platten Parteimarxismus der DDR und der Sowjetunion, waren seinerzeit an den deutschen Hochschulen verbreitete Methoden zur Destabilisierung des „Spätkapitalismus“ und blieben doch weithin ohne große Beachtung in der Öffentlichkeit und zumeist auch in der Politischen Klasse.

Bei Scheuch und bei nicht wenigen anderen Professoren hinterließen sie nicht geringe gesundheitliche Schäden. Auch in Köln versuchten – wie damals häufig – „Feuilleton- und Parteimarxisten“ in Professorenstellen und Lehrtätigkeiten der Universitäten einzudringen, Versuche, denen sich Scheuch wiederum entschieden widersetzte. In diesem Zusammenhang ging auch Scheuchs langjährige Freundschaft mit seinem akademischen Lehrer Rene König zu Bruch, auch dies einer der „Kollateralschäden“ des roten Jahrzehnts, wie sie sich damals vielfach an deutschen Universitäten zutrugen.

Ute Scheuchs Biographie ihres Mannes verdient Beachtung, zum einen als ein quellengesättigter Beitrag zur deutschen Wissenschaftsgeschichte in der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, zum anderen als Dokumentation der „Kulturrevolution“ der sechziger und siebziger Jahre und ihrer Spiegelung in der Lebensgeschichte eines herausragenden Hochschullehrers und in den universitären Institutionen.

Manches von damals wirkt bis heute fort, und Ute Scheuchs Darstellung ist geeignet, auf die Wurzeln mancher Fehlentwicklungen der Gegenwart erneut aufmerksam zu machen. Ob sie von der politischen Klasse gehört und begriffen wird, ist freilich eine andere Frage.          

Ute Scheuch: Es mußte nicht Soziologie sein, aber es war besser so. Erwin K. Scheuch – Eine Biographie. Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried 2008, gebunden, 448 Seiten, Abbildungen, 36 Euro

dieselbe: Erwin K. Scheuch im roten Jahrzehnt. Edwin Ferger Verlag, Bergisch Gladbach 2008, gebunden, 212 Seiten, Abbildungen, 28 Euro

 

Prof. Dr. Klaus Hornung, Jahrgang 1927, lehrte Politikwissenschaft an der Universität Hohenheim.

Foto: Der Kölner Soziologe Erwin K. Scheuch (1928–2003): Abwehr einer Politisierung der Wissenschaft durch den Neomarxismus

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