© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/09 26. Juni 2009

Hausordnung der Hölle
Leo Strauss in Babylon: Neokonservativer Marktradikalismus, Staatszerstörung und Ausbeutung im Irak durch die Statthalter der USA
Oliver Busch

Die Studie der Wirtschaftswissenschaftler Walter Otto Ötsch und Jakob Kapeller über das Verheerungspotential des US-Neokonservatismus hebt mit einer schönen Freudschen Fehlleistung an. Das Geburtsdatum von dessen Ziehvater, dem 1899 in Hessen geborenen Leo Strauss, der 1938 seiner jüdischen Herkunft wegen in die USA emigrierte, verlegen sie nämlich auf 1888. Das ist aber das Geburtsjahr von Carl Schmitt, der lange Zeit als der eigentliche Ideengeber von Strauss und als Inspirator der „Neocons“ galt. Alain de Benoist hat diese Zuschreibung zwar vor kurzem endgültig ins Reich der Legende verbannt (Carl Schmitt und der Krieg, Berlin 2008). Aber bei Ötsch und Kapeller spukt sie noch unterbewußt herum, wenn bei ihnen Schmitt und Strauss als vermeintliche Jahrgangsgenossen figurieren (Internationale Politik und Gesellschaft, 1/2009).

Dabei haben die beiden für das Hausorgan der Friedrich-Ebert-Stiftung schreibenden Ökonomen mit Schmitt gar nichts im Sinn. Für ihre These, daß der Neokonservatismus für die Entwicklung des 2003 besetzten Irak zum „failed state“ verantwortlich sei, nehmen sie allein Strauss’ politische Theorie in Anspruch. Etwas holzschnittartig reduzieren sie diese auf ihre naturrechtliche Axiomatik, der zufolge keine Gesellschaft ohne „eindeutige Standards“ auskäme. Strauss leite daraus eine streng hierarchische Sozialverfassung ab, in der die Elite der „Weisen“ und „Gebildeten“ in „natürlicher“ Weise über die Masse der „Vulgären“ herrsche. Und diese Masse benötige eine feste kollektive Identität, eine nationalistische Gesinnung, die am besten durch den Krieg geformt werde. „Zentral ist für Strauss der Kampf gegen äußere Feinde. Dazu sollten Gefährdungen erfunden und Feinde konstruiert werden. Aufgabe der Politik sei es, kollektive Ängste zu aktivieren. Ein Mittel ist die Kreation eines ‘Mythos’.“ Der „Zyniker“ Strauss empfehle hier also die politische Lüge als Herrschaftsmittel, dessen sich die Elite ungeniert bedienen solle.

Daß diese kollektivistische, „ganzheitliche“ Theorie schwer zum „liberalen“ Individualismus der „Marktradikalen“ paßt, sehen auch Ötsch und Kapeller. Trotzdem glauben sie ein Bindeglied in Strauss’ Verständnis von „Natur“ zu entdecken. Das von ihm beschworene „natürliche Wertefundament“ und die „moralische Ordnung“ lasse sich leicht mit liberal-kapitalistischen Vorstellungen verschmelzen, wenn etwa „der Markt“ als „natürlicher“ Regulator des politischen und sozialen Lebens gegen den „unnatürlichen“ Staat ausgespielt werde. Der „Markt“ sei dann auch der beste Garant für das „Wertefundament“ von Strauss’ hierarchischer Ordnung, die den religiösen „Glauben“, das gerechte „Recht“ und die Unantastbarkeit der „Familie“ verbürge. Genau dies hätten vom Wohlfahrtsstaat enttäuschte Linksliberale wie Irving Kristol in den 1970ern propagiert, als sie Leo Strauss und Adam Smith synthetisierten. Die angebotsorientierte Theorie der Steuersenkungen, die die Reichen begünstigten und die Elitenherrschaft sicherten, und der „Mythos“ von den „Schurkenstaaten“, die solcherart „freie“ Gesellschaften bedrohten, bildeten folglich seit Ronald Reagans Präsidentschaft das ideologische Fundament der US-Außenpolitik auf dem Weg zum „hegemonialen Unilateralismus“ (Jürgen Habermas).

Also schlummerte das Programm, das der auf kapitalistische Zumutungen extrem sensibel reagierende, gleichwohl „bürgerliche“ deutsch-jüdische Philosoph Theodor Lessing (1872–1934) gewiß als „Hausordnung der Hölle“ qualifiziert hätte, zur Legitimation von  Interventionen jeder Größenordnung in den Schubladen des Pentagon.

Mit der US-Intervention im Irak stand 2003 der Praxistest an. Die inzwischen von KPMG Consulting, einem in den Enron-Skandal verwickelten Beratungs-Multi, in ein „Briefing-Paper“ für die Bush-Regierung gestanzte Strauss-Konzeption wurde binnen weniger Monate von dem Rumsfeld-Vertrauten Paul Bremer in Bagdad umgesetzt. Wenige Tage zuvor war unter Beifall der US-Besatzer das Gros irakischer Ministerien, Banken und Bildungseinrichtungen vom Mob geplündert worden. Die administrativen Grundlagen des irakischen Gemeinwesens waren damit vernichtet. Bremers Wirtschaftsberater Peter McPherson nahm das freilich – gut marktradikal – nur als eine „natürliche Privatisierung“ wahr, eine „legitime Form der ‘Schrumpfung’ des Staates“, ganz im Geiste der von Strauss erzogenen „Chicago Boys“.

Durch exakt 100 Verordnungen sorgte Bremer bis 2004 dafür, daß diese „Schrumpfung“ auf die restlose Einschmelzung staatlicher Ordnungsmacht im Zweistromland hinauslief. Alle Schutzregulierungen gegen ausländischen Handel wurden schlagartig beseitigt. Binnen Monaten war der Irak „das einzige Land der Welt ohne jeden Zoll“. Per Erlaß verbot Bremer jede Beschränkung für ausländische (heißt US-) Investoren, jede Hemmung unternehmerischer „Freiheit“ durch arbeitsrechtliche, umwelt- und gesundheitspolitische Vorschriften. 2004 implantierte er die patentrechtlichen Regelungen der WTO. Danach war es irakischen Bauern untersagt, eigenes Saatgut zu ernten – „was impliziert, Saatgut bei den großen (US-)Agrarfirmen (Monsanto, Dupont) kaufen zu müssen“. Bremers Besatzungsbehörde formte einen „radikalen Minimalstaat“ und regierte mit 1.500 Leuten ein 30-Millionen-Volk. Daß unter diesen Bedingungen bei seiner „wertkonservativen“ Truppe die Korruption blühte, erstaunt nicht. Satte 13 Milliarden US-Dollar verschwanden bis 2006 in den Taschen jener, für die „Freiheit“ nach der „Silvana-Maxime“ primär auf Freiheit zur Selbstbedienung hinausläuft.

Der deutsche „Mediennutzer“ erfuhr von all dem nichts. Die Reaktion des irakischen Volkes, dessen Kinder unter Bremers „Verwaltung“ unterernährt blieben, dessen Bildungselite aus dem Land getrieben wurde und dem nicht einmal sauberes Trinkwasser zur Verfügung stand, erschien auf deutschen Mattscheiben und Titelseiten als irrationaler „islamistischer Terror“, nicht als Folge „totaler Liberalisierung“. Schon Jahre vor der Finanzkrise wären bei präziser journalistischer Recherche die desaströsen Folgen solcherart „neuer Weltordnung“ im Irak abzulesen gewesen. Wie Ötsch und Kapeller darlegen, habe die Bush-Regierung detaillierte Pläne ihres speziellen „Modells Wiederaufbau“ bereits für 25 weitere mögliche Interventionsopfer im Köcher gehabt – von Venezuela bis zum Iran. Ob sie heute noch aktuell seien, bleibe „abzuwarten“.   

Foto: Ein Panoptikum der Quislinge – US-Administrator Paul Bremer (2. v. l.) präsentiert voller Stolz das offizielle irakische Regierungsgremium, Dezember 2003: Das einzige Land der Welt ohne jeden Zoll

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