© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/09 03. Juli 2009

Wahltourismus und Stimmenkauf
Bulgarien: Ethnische Spannungen, Kriminalität und Manipulationsvorwürfe bestimmten den Wahlkampf / Bürgermeister von Sofia künftiger Regierungschef?
Martin Schmidt

Das einzig Verläßliche in der bulgarischen Politik scheint das Chaos zu sein. Entsprechend unübersichtlich ist die Parteienlandschaft des EU-Neulings, der zumeist wegen Kriminalität und Armut sowie der Dauergeißel Korruption in die Schlagzeilen gelangt. Hinzu kommen Berichte über das weitgehend ungehinderte Fortwirken alter KP-Kader.

So arbeitete der postkommunistische Staatspräsident, der 52jährige Georgi Parwanow (BSP), einst für die bulgarische „Stasi“. Der mutmaßliche nächste Regierungschef Bojko Borissow machte im Innenministerium und nach der Wende als Personenschützer Karriere. Doch das größte Problem des Balkanlandes sind die schwelenden ethnischen Spannungen. Diese spielen auch vor der Parlamentswahl am 5. Juli eine beherrschende Rolle – und sie spitzten die Gegensätze zwischen den slawischen Bulgaren und den Minderheiten der Türken und der Zigeuner weiter zu. Die nationalpopulistische Ataka, die nun die „Auferstehung“ vom „wieder herrschenden türkischen Joch“ fordert, kam bei den Parlamentswahlen 2005 auf 8,1 Prozent. Bei der Präsidentenwahl 2006 landete Ataka-Gründer Wolen Siderow mit 21 Prozent auf Platz zwei. Bei der Europawahl waren es allerdings nur mehr 12 Prozent, denn mit der Partei „Ordnung, Gesetz, Sicherheit“ RZS (4,7 Prozent) unter Führung des erklärten Korruptionsbekämpfers Jane Janew fischen zusätzliche Konkurrenten nach Protestwählern. Anhänger Janews blockierten am 24. Juni gemeinsam mit Vertretern der gemäßigt-nationalistischen VMRO und des Bauernbundes das bulgarische Außenministerium, um gegen die Einrichtung von 127 Wahllokalen in der Türkei zu demonstrieren. 2005 hatten über 40.000 ausgesiedelte Türken so ihre Stimme abgeben können und dabei wohl ausnahmslos die bulgarische Türkenpartei DPS unterstützt.

Die türkische Minderheit, gegen die zu kommunistischen Zeiten eine massive Vertreibungs- und Assimilationspolitik betrieben wurde, umfaßt heute etwa 900.000 Personen. Sie lebt, ebenso wie die als „Pomaken“ bezeichneten islamisierten Bulgaren (etwa 250.000 Personen), schwerpunktmäßig in geschlossenen ländlichen Siedungsgebieten. Und sie wächst wie die Zigeunerminderheit stetig – ganz anders als die geburtenschwache Titularnation.

Die Direktorin des Meinungsforschungszentrums NZIOM, Lidia Jordanowa, gab am 15. Juni im Rundfunk bekannt, daß bei der Europawahl bis zu sechs Parteien massenhaft Wählerstimmen gekauft hätten. Dies sei keineswegs neu, aber die Methoden fielen „raffinierter“ als früher aus. Die DPS beglich beispielsweise unlängst überfällige Wasserrechnungen des Zigeunerviertels in der Stadt Pasardschik – die Zahlung fiel mit einem Wahlkampfauftritt von Parteichef Ahmed Demir Doğan zusammen. In der Stadt Dupniza haben sich zwei mutmaßliche Mafiosi als Kandidaten für die Parlamentswahl registrieren lassen – sie genießen seither Immunität.

Neben Korruption und Kriminalität sorgt vor allem die soziale Lage (das monatliche Durchschnittseinkommen liegt derzeit bei 304 Lewa/155 Euro) für viel Frust bei den knapp sieben Millionen Wahlberechtigten. All das dürfte die seit 2005 regierenden postkommunistischen Sozialisten (BSP, nur noch 18,5 Prozent bei der EU-Wahl) die Macht kosten. Beste Aussichten auf die Machtübernahme hat dagegen die Partei „Bürger für die europäische Entwicklung von Bulgarien“ (GERB), die 2006 auf Initiative des schillernden Bojko Borissow, seit 2005 Bürgermeister von Sofia, gegründet wurde. Die GERB, die auf Themen wie Kriminalität, Wirtschaftsmisere und soziale Fragen setzt, wurde bei der Europawahl mit 24,4 Prozent stärkste Kraft.

Auch Borissow zieht zudem die nationale Karte: „Ein für allemal muß man wissen, daß es in Bulgarien bulgarische Bürger gibt, in der Türkei türkische, in Serbien serbische. Deswegen sind die Grenzen da“, erklärte er gegenüber der Deutschen Welle. „Wenn sich einer als Bulgare empfindet, gut. Wenn er Türke ist – soll er in die Türkei gehen.“ Der Mitgliedschaft in der EVP-Fraktion des EU-Parlaments standen solche Aussagen nicht im Wege – eine Koalition mit der DPS (14,1 Prozent bei der EU-Wahl) dürfte vor dem Hintergrund solcher Äußerungen allerdings schwierig werden.

Da neben der Bewegung von Ex-König Simeon II. (NDSW/14,1 Prozent) auch der neuen Wirtschaftspartei „Lider“ und der liberal-konservativen „Blauen Koalition“ (SDS-DSB) sowie Janews RZS gute Wahlchancen eingeräumt werden, könnten künftig sogar acht Parteien in der 240köpfigen Nationalversammlung sitzen.

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