© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/09 03. Juli 2009

Die Despotie der Braunhemden
Mit den Morden des „Röhm-Putsches“ endete auch das Willkür-Regime des Gauleiters und seiner Paladine in Pommern
Thorsten Hinz

Der Historiker Christian Graf Krockow erlebte den 30. Juni 1934 als Siebenjähriger. In dem Buch „Die Reise nach Pommern“ erinnert er sich an ein Familienfrühstück im elterlichen Gutshaus weit hinten in Ostpommern. Jemand stürmte zeitungsschwenkend auf die Veranda: „Das Schwein ist tot, das Schwein ist tot.“ Das Schwein hieß Ernst Röhm. Ein Blick auf die politischen Verhältnisse damals in Pommern mag Verständnis wecken für den Jubel, der immerhin staatlich lizensierten Morden galt.

Pommern zählte unter den preußischen Provinzen zu den größeren und war in zwei Regierungsbezirke – Stettin und Köslin – gegliedert. Das Stettiner Regierungspräsidium hatte politisch mehr Gewicht, denn Stettin war zugleich Provinzialhauptstadt und Sitz der pommerschen Gauleitung. Der Sitzungssaal im Regierungsgebäude an der Hakenterrasse wurde über 1918 hinaus von den riesigen Ölgemälden der preußischen Könige beherrscht. Regierungspräsident Conrad Göppert (geboren 1877) war noch in der Endphase der Weimarer Republik ins Amt gekommen. Sein Stellvertreter, Joachim von Alt-Stutterheim (1889–1950), wurde im Herbst 1933 von Potsdam hierher versetzt, nach einem Streit mit dem märkischen Gauleiter über den NS-Terror.

Diesen Vertretern der alten Staatsmacht stand ein weitaus stärkeres Dreigestirn der Partei und SA gegenüber: Gauleiter Wilhelm Karpenstein (1903–1968), von Beruf Rechtsanwalt, der pommersche SA-Führer Peter von Heydebreck (1887–1934) und Polizeipräsident Fritz-Karl Engel (geboren 1898), laut Alt-Stutterheim „ein ungehobelter Bursche ohne jede Kenntnisse“. Heydebreck, ein Haudegen aus der Zeit der polnischen Aufstände in Oberschlesien, führte seine Machtvollkommenheit vor, indem er zum Beispiel Einbahnstraßen grundsätzlich in der falschen Richtung passierte und polizeiliche Verwarnungen als „bürokratische Überreste des versunkenen demokratischen Systems“ ignorierte.

Die Aufsicht über die Polizei und den Polizeipräsidenten lag offiziell bei der Regierung, doch sie bestand nur auf dem Papier. Berichte über Gesetzesbrüche durch SA und SS erreichten sie nur inoffiziell, echte Möglichkeiten, Übergriffe und Inhaftierungen abzustellen, bestanden nicht. Denn Engel war in Personalunion auch Leiter der Staatspolizei in Pommern und unterstand in dieser Eigenschaft unmittelbar der Berliner Gestapo-Zentrale, die ihren Leitstellen in den Provinzen Weisungen erteilte, von denen die Regierungen meistens gar nichts erfuhren. Das ermöglichte es Engel – und durch ihn der Gauleitung –, nach Belieben Verhaftungen vorzunehmen.

Eine pommersche Besonderheit war die Vakanz im Oberpräsidium. Üblicherweise wurde das Amt, das ursprünglich der preußischen Krone, dann der Staatsregierung die Oberaufsicht über die Provinzen gestattete, 1933 den Gauleitern übertragen. In Pommern war der seit 1930 amtierende Oberpräsident Carl von Halfern (1873–1937) im Oktober 1933 auf eigenen Antrag in den Ruhestand versetzt worden, doch Karpenstein wartete vergeblich auf seine Ernennung. Hermann Göring, Ministerpräsident und Innenminister in Preußen, hegte eine unüberwindbare Abneigung gegen ihn, konnte ihn aber nicht absetzen.

Karpenstein verstand sich als Provinzfürst aus eigenem Recht. Bereits vor der Machtergreifung war es deswegen mehrfach zu Konflikten gekommen. Die Situation wird durch einen Funkspruch Görings erhellt, der am 15. März 1933 an die Gauleitung erging: „Trotz Erlaß des Führers und der von mir herausgegebenen Erlasse werden (...) fortwährend Eingriffe in die preußische Innere- und Kommunal-Verwaltung sowie Justiz vorgenommen, Landratsämter, kommunale Gesellschafts- und Theaterbetriebe sowie ähnliches mehr besetzt. Ich fordere hiermit zum letzten Male aufs schärfste, daß die Erlasse des Führers sowie meine eignen unbedingt respektiert werden. Unverzüglich sind sämtliche Eingriffe in Kunst-Institute und Theater rückgängig zu machen. (…) Die gesamte Staatsverwaltung beginnt unter dem (!) selbständigen und oft falschen Eingriffen seitens der Gau- und Kreisleitungen empfindlich zu leiden.“ Belästigungen von Ausländern sollten unterbleiben, die Schuldigen seien der Polizei zu übergeben und aus der Partei auszuschließen.

Während die Reichsführung auf Konsolidierung setzte, wollte Karpenstein die Revolutionierung der Verhältnisse. Im Preußischen Innenministerium häuften sich die Beschwerden darüber, daß er „eine eigene Personalpolitik“ betreibe und in polizeiliche und kommunale Führungspositionen „Leute (hineinversetzt), welche in keiner Weise das Vertrauen der anständigen Bevölkerung besitzen“. Er betrachtete Pommern als Pfründe für sich und seine Entourage. Er stützte sich auf die pommersche SA, die sich als ein elitärer Orden jenseits bzw. über der Partei verstand. „SA-Mann könne in Zukunft jeder gesunde Mann werden, ohne in die Partei einzutreten“, hatte 1932 ein hoher pommerscher SA-Führer getönt. „Untaugliches und sonstiges Kruppzeug (!) kommen in die Partei als Klebekolonne oder können dort ein politisches Amt übernehmen.“ SA-Männer sollten künftig nur noch das SA-Abzeichen anheften, denn das Parteiabzeichen „kann jeder Affe tragen“.

Um den aufgeblähten Apparat zu finanzieren und seine Hausmacht zu festigen, hatte Karpenstein ein eigenes Finanzierungssystem geschaffen. Er zweigte Gelder vom Parteiorgan, der Pommerschen Zeitung, ab und kaufte davon 25 Autos für die SA. Von Firmen, Industriellen und Geschäftsleuten erpreßte er zwei Millionen Reichsmark. 370.000 Reichsmark stellte ihm die Stettiner Industrie- und Handelskammer für den Ankauf von SA-Tornistern bereit. Verschiedentlich hatten Betriebe und Gewerbe kleinere und größere Beträge an einzelne SA-Gliederungen abgeführt, oft nach massivem Druck und sogar Mißhandlungen.

Im Februar 1934 teilte Karpenstein den Kreisleitern per Rundschreiben mit, daß in die Kommunalhaushalte „ein Betrag für politische Aufgaben“ eingestellt werden müsse, um „alle Anforderungen der SA“ zu begleichen. Seine Selbstherrlichkeit ging so weit, daß er auf dem Gelände der stillgelegten Vulkan-Werft in Stettin eine Art Privat-KZ unterhielt, wo Morde und fürchterliche Quälereien verübt wurden. Als ein Kommunalbeamter im Preußischen Innenministerium mit Belastungsmaterial vorstellig wurde, ließ Göring ihn unter Gestapo-Schutz stellen, damit er vor Karpensteins Häschern sicher blieb. Das Vulkan-KZ wurde von Göring schließlich aufgelöst und sein Führungspersonal – was absolut ungewöhnlich war – zu hohen Haftstrafen verurteilt.

Das steigerte Karpensteins Zorn. Das Porträtfoto im „Handbuch über den Preußischen Staat“ zeigt einen jungen Mann, der sich um eine cäsarenhafte Kopfhaltung bemüht, doch die Gesichtszüge sind weich. Seine Gegner meldeten nach Berlin und München, der verheiratete Gauleiter sei in flagranti bei homosexuellen Handlungen ertappt worden, er stamme von einer Trinkerin oder Landstreicherin ab, habe Zigtausende Mark unterschlagen. Im April 1934 ließ er Regierungsvizepräsident Alt-Stutterheim mitteilen, daß die Partei jeglichen Kontakt mit ihm beende, weil er „mit den erbitterten Gegnern des Nationalsozialismus“ verkehre und stets ein „Feind“ gewesen sei. Alt-Stutterheim gingen Informationen über ein Treffen Heydebrecks mit Unterführern der SA zu, bei dem Heydebreck erklärt hatte, die SA-Revolution sei noch lange nicht abgeschlossen, es müsse „noch sehr viel mehr Blut fließen“, der Regierungspräsident und sein Vize seien die ersten, die aufgehängt würden.

Als die SA „ganz offiziell Spottlieder auf das Militär“ sang, mischte sich die bis dahin zurückhaltende Reichswehr ein. Reichswehrminister Werner von Blomberg (1876–1946), geboren im pommerschen Stargard, meldete sich bei Göppert und Alt-Stutterheim überraschend zu einem Gespräch an. Daraufhin mäßigte sich das Verhalten der Gauleitung und der SA wieder. Karpenstein und Heydebreck verboten ausdrücklich weitere Spottlieder auf die Armee. Am 21./22. Mai fand in Stettin ein großes SA-Treffen mit Röhm statt. Die Stadt wurde dafür aufwendig hergerichtet, über der Straße nahe der Hakenterrasse war ein Transparent mit der Aufschrift: „Heil dem Stabschef Röhm, unserm Retter!“ gespannt. Berichte über eine „blutrünstige Rede“, die Röhm im vertrauten Kreise gehalten hatte, gingen danach um und nährten die Furcht vor einer „zweiten Revolution“.

Zu der kam es nicht. SA-Gruppenführer Peter von Heydebreck wurde am 30. Juni 1934 im Zuchthaus München-Stadelheim erschossen, wie der befreundete Ernst Röhm.

Mehrere Verurteilte aus dem Vulkan-Prozeß wurden aus dem Gefängnis geholt und ebenfalls erschossen. Karpenstein entging diesem Schicksal, weil sich seine Reise nach Bayern zum SA-Treffen mit Röhm verzögert hatte. Er kehrte nach Stettin zurück und versuchte, sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Doch sein Autoritätsverfall war total. Der von ihm eingesetzte Stettiner Oberbürgermeister mußte ausgerechnet das Regierungspräsidium um Hilfe bitten, weil die Angestellten ihm kurzerhand ihre Dienste versagten. Er schimpfte nun gleichfalls auf das „elende Verräterpack“ und „Lumpengesindel“ um Karpenstein, das den Tod verdiene.

Nach zweijähriger Haft wurde Karpenstein begnadigt mit der Auflage, Pommern nicht mehr zu betreten. Polizeipräsident Engel wurde nach Berlin abgeschoben, als Chef der Müllabfuhr. Drei Wochen lang war Stettin, so ist in den nachgelassenen Papieren Alt-Stutterheims zu lesen, „völlig verändert“. Die SA-Uniformen waren aus dem Stadtbild verschwunden, die „Gauleitung existierte nicht mehr“, und niemand wußte, was aus ihr geworden war. Die allgemeine Erleichterung war verständlich, was wenige Jahre später folgen würde, konnte niemand ahnen. Vorläufig durften sich die Krockows und Alt-Stutterheims mit Thomas Manns „Mario und der Zauberer“ sagen: „Ein Ende mit Schrecken, ein höchst fatales Ende. Und ein befreiendes Ende dennoch – ich konnte und kann nicht umhin, es so zu empfinden.“

Fotos: Pommerns Gauleiter Wilhelm Karpenstein: Selbständige und oft falsche Eingriffe, Kriegsinvalider SA-Führer Peter von Heydebreck, von der SS 1934 erschossen: „Es muß noch sehr viel mehr Blut fließen“

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen