© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/09 10. Juli 2009

Rückkehr der Nation
Totgesagte leben länger: Der Nationalstaat ist unverzichtbar und hat Zukunft
Michael Paulwitz

Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die Deutschen und ihre Politiker an einen fast schon vergessenen alten Freund erinnert: ihren Nationalstaat. Nach dem unverhofften Wiedersehen mit dem Staat, der sich in der Weltwirtschaftskrise als die Instanz mit der größten Handlungsfähigkeit erwiesen hat, hinter der sich plötzlich auch die global spielenden Banker und Konzernherren versammeln wollten, war es bereits das zweite déjà vu: Der alte Freund, den die Liberalen schon als überwundenes Relikt totgesagt hatten und den die Sozialisten am liebsten absterben lassen wollten, ist nicht nur quicklebendig, er wird auch dringender gebraucht als je zuvor.

Demokratie, das steht in jedem Wörterbuch, heißt Volksherrschaft. Souverän ist der Demos, das Volk, und zwar das politisch organisierte: die Nation. Um ihre Souveränität, ihre unabhängige Entscheidungsgewalt und Selbstbestimmtheit also, nach innen zu verwirklichen und nach außen gegenüber anderen politisch verfaßten Völkern zu behaupten, nimmt die Nation als Staat Gestalt an. Der Nationalstaat ist gleichberechtigtes Subjekt des Völkerrechts, und er ist der Bezugsrahmen, in dem Demokratie allein praktisch gelebt und verwirklicht werden kann.

Es ist üblich geworden, „demokratisch“ als beliebig verwendbare, positiv gemeinte Allerwelts- und Wohlfühlformel zu gebrauchen, mit der sich alles Erdenkliche bezeichnen läßt, vom Stuhlkreis im Kindergarten bis zur Uno-Vollversammlung. Ohne Nation und Nationalstaat aber ist Demokratie nicht möglich. Eine demokratische Weltregierung ist nicht denkbar, nicht einmal eine demokratische EU-Regierung; beiden fehlte das Staatsvolk, das sie durch seinen souveränen Willen legitimieren könnte. Demokratien können sich nur zu Staatenbünden unter Gleichen zusammenschließen, sonst hören sie auf, demokratisch regiert zu werden.

Der Karlsruher Richterspruch zum Lissabon-Vertrag hat nicht allein den Traum vom europäischen Superstaat mit einem unsanften Weckruf vorläufig beendet, sondern zugleich bekräftigt, daß der Nationalstaatsgedanke das bestimmende Ordnungsprinzip auch des 21. Jahrhunderts bleiben wird. Politik ist auch im globalen Zeitalter in erster Linie Staatenpolitik. Und die flexibelste, dauerhafteste und der westlich-europäischen Tradition angemessenste Verfassung ist die demokratisch-republikanische, in der die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, von diesem in Wahlen und Abstimmungen direkt oder repräsentativ ausgeübt wird und die auf der institutionellen Trennung und wirksamen gegenseitigen Kontrolle der vom Volkssouverän legitimierten Gewalten beruht.

Diese Staatsform ist in ihrer historischen Entwicklung und in ihrer bestehenden Realität an die Nation gebunden und nicht an eine zufällig auf einem bestimmten Territorium anwesende, beliebige Bevölkerung. Nur die Nation als Sprach, Abstammungs- und Kulturgemeinschaft besitzt einen ausreichenden Vorrat an Gemeinsamkeiten, um eine demokratische Öffentlichkeit herzustellen, eine gemeinsame Willensbildung zu ermöglichen und nicht zuletzt, um Kompromisse schließen zu können, bei denen sich widerstreitende Einzelinteressen einem übergeordneten Ganzen beugen müssen.

Solidarische Sozialsysteme haben deshalb nur im Rahmen des Nationalstaats Bestand. Aus Solidarität mit dem ärmeren Landsmann kann man dem reicheren höhere Beiträge abverlangen. Die linke Vision vom „sozialen Europa“ mit Umverteilung von Sizilien bis zum Polarkreis und vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer wird dagegen niemand freiwillig bezahlen wollen. Internationale Solidarität ist eine Zumutung. Kein deutscher Arbeitnehmer verzichtet freiwillig auf seinen Arbeitsplatz, damit die Produktion nach Osten verlagert wird und rumänische „Kollegen“ in Lohn und Brot bringt.

Auch die globalen Migrationsbewegungen unseres Jahrhunderts stellen das Nationalstaatsprinzip nicht in Frage, sie unterstreichen vielmehr seine Notwendigkeit. Der Blick über den Zaun in „echte“ Einwanderungsländer lehrt: Die Integration von Zuwanderern gelingt dort am besten, wo Neuankömmlinge im Aufnahmeland eine intakte nationale Identität antreffen, die ihnen Assimilation und Eingliederung leichtmacht. Leben Einwanderer dagegen neben der Staatsnation her und kennen nur das Partikularinteresse der eigenen Ethnie als letzten Bezugspunkt, sind Verteilungskämpfe programmiert, die ein Gemeinwesen zerreißen können.

Eine EU-Einwanderungspolitik ist daher ebenso sinnlos wie eine europäische Sozial- oder gar Integrationspolitik. Nur die Nationen selbst können entscheiden, wen sie aufnehmen und eingliedern können: Es geht schließlich um ihren eigenen Fortbestand als politisches Subjekt. Atomisierte Bevölkerungen ohne nationalen Willen und nationale Identität werden dagegen leicht zum Objekt von Kollektivismen aller Art.

Wer die Nationen auflösen will, strebt zurück in totalitäre und absolutistische Zeiten. Das Grundgesetz schiebt dem einen Riegel vor, indem es sorgfältig zwischen allgemeinen Menschenrechten und speziellen politischen Bürger- und Deutschenrechten unterscheidet, die den Gliedern des Volkssouveräns vorbehalten sind. Die reaktionären Bestrebungen multikulturalistischer Ideologen, diese Differenzierungen durch allgemeines Ausländerwahlrecht, voraussetzungslose Einbürgerung und forcierte Gleichstellung von Ungleichem einzuebnen und auf diese Weise mit der Nation auch den demokratischen Souverän von innen heraus aufzulösen, sind das Pendant zum Lissabonner Angriff auf die Volkssouveränität von außen und könnten durchaus zum Gegenstand der nächsten historischen Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts werden.

Deutschland hat als republikanischer Nationalstaat mit dem Grundgesetz und dem Verfassungsgericht als beider Hüter den Ordnungsrahmen, um das 21. Jahrhundert zu meistern. Es braucht nur mehr Politiker, die bereit und fähig sind, ihn auszufüllen.

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