© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/09 10. Juli 2009

Amnesien eines Kritikers
Gerhard Gnauck stößt in seiner Biographie von „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki auf geheimnisvolle Ungereimtheiten
Doris Neujahr

Die Kritik zum Film „Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben“ war verhalten freundlich, in der FAZ fiel sie erwartungsgemäß euphorisch aus. Kaum einer mochte bemerken, daß der Filmtitel, was Reich-Ranickis Jahre zwischen 1945 bis 1958 betrifft, in die Irre führt. Was widerspruchsvoll und erklärungsbedürftig daran ist, wurde weggelassen. Die Begeisterung, die Reich-Ranicki für den Film bekundete (er fand ihn „fabelhaft“), beglaubigt keineswegs seinen Wahrheitsgehalt, sondern gibt Anlaß zu Mißtrauen. Für wen wäre es nicht schmeichelhaft, sein jugendliches Alter ego vom hübschen Matthias Schweighöfer verkörpert zu sehen?

Doch vor allem hat Reich-Ranicki ein instrumentelles Verhältnis zur eigenen Biographie. Legendär sein Spiegel-Interview von 20. Juni 1994, in dem er von der Tätigkeit beim polnischen Geheimdienst stets nur einräumte, was man ihm gerade nachwies. Trotzdem könnte dieser historisch unzuverlässige Film zum Schulstoff werden. Wohlmeinende Bildungsfunktionäre könnten auf den Gedanken kommen, daß die Holocaust-Erziehung nicht immer nur depressiv wirken, sondern am Ende auch Wege der Hoffnung und den Blick auf Vorbilder und Identifikationsfiguren eröffnen müsse.

Der Journalist Gerhard Gnauck, der für die Tageszeitung Die Welt aus Warschau berichtet, hat in einem Rundfunk­interview den Film schlicht „verlogen“ genannt. Er muß es wissen, denn er hat für sein Buch „Wolke und Weide“, das sich mit Reich-Ranickis polnischen Jahren von 1920 bis 1958 beschäftigt, die erreichbaren Akten gesichtet, die noch greifbaren Zeugen befragt und mit Reich-Ranicki Interviews geführt.

Gnauck nähert sich ihm mit dem gebotenen Respekt, es geht ihm um Erklärung, nicht um sensationsheischende Enthüllung. Ausdrücklich hebt er die Lebensleistungen des Literaturkritikers hervor – das Überleben der NS- und Getto-Zeit war seine größte. Sehr schön und anrührend ist das Porträt von Teofila („Tosia“) Reich. Gnauck hält die 1999 veröffentlichte Autobiographie Reich-Ranickis an relevanten Stellen für nicht belastbar, und der Film steigert die Retuschen noch. Er suggeriere, „Reich-Ranicki wird aus diesem polnischen Geheimdienst oder, nennen wir es beim Namen, aus dem polnischen Staatssicherheitsministerium abgerufen, weil er darin antikommunistische Aktivitäten verfolgt hätte. Das steht weder in der Autobiographie noch in den Archiven, in den Akten, die ich gelesen habe über Reich-Ranicki, aber auch über sein engstes Umfeld in verschiedenen Etappen.“

Bereits die ersten Szenen vermitteln eine, nun ja, freizügige Interpretation der Tatsachen. Reich-Ranicki erscheint als Abweichler vom Dogma, der in die Mühlen des stalinistischen Apparat gerät. Berufliche Degradierung und Parteiausschluß besiegeln, was in seinem Innern längst stattgefunden hat. In der Autobiographie behauptete Reich-Ranicki noch, er habe aus politischen Gründen selber um seine Abberufung gebeten, doch auch dafür gibt es laut Gnauck „nicht den geringsten Anhaltspunkt. In den Akten findet man nicht die Spur eines Zweifels an seiner Linientreue.“

1948/49 war er polnischer Vizekonsul, dann Konsul, schließlich kommissarischer Generalkonsul in London: Das war zumindest sein offizielles Amt, in der Hauptsache war er Resident des Geheimdienstes, den man zur Tarnung vom Sicherheits- ins Außenministerium abgestellt hatte. Er koordinierte die Arbeit von Agenten und fertigte eine Kartei mit 2.100 Namen polnischer Exilanten an, „für die sich die Behörden der VRP (Volksrepublik Polen) interessieren könnten“. Nach Warschau wurde er einbestellt, weil das Agentennetz zusammengebrochen war – durch Überläufer, Enttarnungen, Abberufungen – und ein Schuldiger für das Fiasko gefunden werden mußte. General Czeslaw Kiszczak, Ministerpräsident a. D., der seinerzeit für den militärischen Geheimdienst tätig war, vermutet indes einen „kriminellen Hintergrund“. Offiziell wurde Reich-Ranicki die Vortäuschung seiner Mitgliedschaft in der KPD, die Funktion im Getto und die verheimlichte Erteilung eines Visums für seinen in London lebenden Schwager vorgeworfen.

Im März 1950 wurde er aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Der Film unterschlägt, daß er sogleich den Kampf um die Wiederaufnahme aufnahm, „Fehler“ einräumte und beteuerte, im Herzen sei er stets Kommunist gewesen. Er habe sich vom kleinbürgerlichen Milieu losgesagt und sei ideologisch zuverlässig. Die Gründe für die politische Entfremdung lagen also nicht bei ihm, sondern in der Irrationalität des Systems, das „Säuberungen“ vornahm und im Kosmopolitismus, der vor allem Juden unterstellt wurde, einen Hauptfeind erblickte. Zuletzt 1955 erneuerte Reich-Ranicki seine Bemühungen. 1957 erfüllte die Partei ihm seinen Wunsch und schloß ihn wieder in die Arme.

1946 wurde er zur polnischen Militärmission in Berlin delegiert, die hauptsächlich damit beschäftigt war, die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten zu unterstützen. Sein konkreter Aufgabenbereich bleibt auch für Gnauck weitgehend im Dunkeln. „Was geht es die Deutschen an, was ich in polnischen Diensten getan habe?“ hatte Reich-Ranicki in den 1990er Jahren gepoltert. So geht es aber nicht! Schließlich wurde von polnischen Diensten Verbrechen an Deutschen begangen, die bis heute ungesühnt sind.

Nach seiner Befreiung durch die Rote Armee im September 1944 stellte sich Reich-Ranicki dem neuen polnischen Sicherheitsministerium zur Verfügung. Im oberschlesischen Kattowitz baute er Anfang 1945 die Postzensur auf. An die Einzelheiten von damals, behauptet er, könne er sich nicht erinnern, doch einmal entschlüpfe ihm eine Äußerung, die seine behauptete Amnesie widerlegt. Gnauck beherrscht das Understatement. Die ganze Brisanz der Erinnerungslosigkeit Reich-Ranickis erschließt sich erst über eine Fußnote. Zur gleichen Zeit richtete der polnische Geheimdienst in Oberschlesien Lager für Deutsche ein. John Sack, ein ehemaliger US-Kriegsberichterstatter und Nachkomme polnischer Juden, hat darüber das Buch „Auge um Auge. Die Geschichte von Juden, die Rache für den Holocaust suchten“ verfaßt, für das er auch ehemaliges Aufsichtspersonal interviewte.

Das Buch ist Dynamit, der Piper-Verlag trat daher von der Veröffentlichung zurück. Es erschien 1995 im Hamburger Ernst Kabel Verlag und ist vergriffen. Einblicke bietet auch Helga Hirschs Buch „Die Rache der Opfer“ über „Deutsche in polnischen Lagern 1944–1950“. Jedenfalls wurden in den Lagern derart viehische Mord- und Foltertaten verübt, an Männern und Frauen, an Kindern und an Greisen, daß sich das im Oktober 1944 im ostpreußischen Nemmersdorf von der Roten Armee begangene Massaker wie ein Werk christlicher Barmherzigkeit ausnimmt. Insgesamt 60.000 bis 80.000 Deutsche dürften umgekommen sein, 70 Prozent des Aufsichtspersonals, so Sack, seien Juden gewesen. Sicherlich hatte der Geheimdienst die Zusammensetzung des Personals beabsichtigt und sein maximales Rachebedürfnis einkalkuliert – auch das ein Verbrechen!

Gnauck hat 2002, zwei Jahre vor seinem Tod, mit John Sack gesprochen, der für sein Buch auch Reich-Ranicki befragen wollte. Dieser war nur zu einem kurzen Telefonat bereit gewesen. Hatte er wirklich nichts gehört von den Blutorgien, die in der Nähe und in Verantwortung seines Dienstes stattfanden? Oder handelt es sich um Verdrängungsarbeit, für die seine 1962 verfaßte Verteidigung des russischen Kriegspropagandisten Ilja Ehrenburg die Erklärung liefert? Als in der Bundesrepublik die Autobiographie Ehrenburgs erscheinen sollte, brach ein Proteststurm unter den damals noch einflußreichen Vertriebenen los, die Ehrenburgs Propaganda für die Gewalt der Roten Armee mitverantwortlich machten. Reich-Ranicki schrieb: „Muß man selber gesehen haben, wie Deutsche jüdischen Müttern – bitte lesen Sie weiter! – ihre kleinen Kinder entrissen und deren Schädel an Häusermauern zerschmetterten, um die Schamlosigkeit der Entrüstung zu ermessen, mit der heute in deutschen Blättern über die damaligen – tatsächlichen oder angeblichen – Aufrufe Ehrenburgs geschrieben wird?“

Im Film entschließt er sich, 1958 von einer Dienstreise in die Bundesrepublik nicht mehr nach Polen zurückzukehren, Frau und Sohn folgen ihm nach. In der Autobiographie heißt es dagegen, um die Behörden in Polen und Deutschland zu täuschen, hätte seine Frau für sich und den Sohn Reisepapiere nach England beantragt, während er sich um eine Studienreise in die Bundesrepublik bemühte. Die gemeinsame Ausreise nach Israel zu beantragen, wäre zu riskant gewesen, der Antrag hätte abgelehnt und Berufsverbote nach sich ziehen können.

Dagegen verweist Gnauck darauf, daß mehrere ehemalige Angehörige des Geheimdienstes legal nach Israel ausreisen durften. Und waren die polnischen Behörden wirklich so dumm, die Fluchtabsicht der Familie nicht zu wittern? – Keineswegs, sie wußten davon! Gnauck hat ein Dokument der Paßabteilung der Warschauer Miliz gefunden, das auf die Parallelität der Reiseanträge hinwies. Hatten die Behörden sich etwas davon versprochen, sie trotzdem zu genehmigen?

Wo keine Klarheit ist, eröffnet sich der Raum für Spekulationen. War es eine Gefälligkeit, um die Konstruktion einer politischen Fluchtlegende zu ermöglichen, die seine Ankunft im Westen erleichterte, ohne den Status des politischen Flüchtlings zu beanspruchen? Als solcher hätte er nämlich über sein Wissen Auskunft geben müssen. Was war dann der Preis? Einen Anspruch auf Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft besaß Reich-Ranicki ohnehin, denn seine Mutter war, ehe sie einen polnischen Staatsbürger heiratete, Bürgerin des Deutschen Reiches gewesen. Bemerkenswert auch, daß die Geheimdienste des Ostblocks ihn nicht demontierten, obwohl er aus ihrer Sicht ein Verräter und ideologischer Gegner war.

Als vor 15 Jahren seine Geheimdiensttätigkeit publik wurde, schrumpfte Reich-Ranicki auf Normalmaß. Die Nachricht warf Fragen auf nach Genese, Struktur und Geist des bundesdeutschen Kulturbetriebs. Inzwischen ist an die Stelle des Aufklärungs- ein beinahe absolutes Verehrungsbedürfnis getreten – ein Politikum, das für die DDRisierung der BRD-Gesellschaft und deren historische Folgerichtigkeit steht.

Im Sommer 1990 hatte Reich-Ranickis Hausblatt, die „Zeitung für Deutschland“, den Startschuß für den Literaturstreit mit einer Attacke auf Christa Wolf gegeben, über deren Antifaschismus es hieß: „Es ist gewiß keine übertriebene Psychologisierung, wenn man vermutet, daß die mit einem ganzen Volk schuldhaft sich verstrickt wissende junge Frau in den Protagonisten des neuen Regimes wirkliche Helden und neue Väter sah, die das verworfene Volk und sie selber wieder annahmen.“ Diese Loyalität habe dazu geführt, „daß jene autoritäre Struktur des Charakters, die oft nichts anderes war als Opportunismus, die man den Intellektuellen von Kaiserzeit und Drittem Reich attestierte“, in der DDR „ungebrochen fortwirkte“.

Wahre Worte. Man muß sie nur ein klein wenig abwandeln, um die mentale Beschaffenheit der nachgewachsenen Meinungsmandarine der Bundesrepublik zu beschreiben.

Gerhard Gnauck: „Wolke und Weide“. Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre. Klett-Cotta, Stuttgart 2009, gebunden, 287 Seiten, Abbildungen, 23,90 Euro

Foto: Marceli Ranicki, mit 28 Jahren der jüngste Konsul in London mit seinem Dienstwagen als Diplomat in London 1948: „Was geht es die Deutschen an, was ich in polnischen Diensten getan habe?“

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